Kriegsende (V): Der frühere Standortoffizier Karl von Seeger schildert seine Auseinandersetzungen mit dem Kreisleiter in den Tagen vor der amerikanischen Besetzung Rothenburgs

Vorbemerkung: Diesen Text verfasste der damalige Standortoffizier Karl von Seeger am 14. Juni 1946. Darin schildert er aus eigenem Erleben die damaligen Ereignisse. Der Autor war Offizier der Wehrmacht. In der Nachkriegszeit betonten ehemaligen Stabsoffiziere und Generale in Veröffentlichungen und Zeugenaussagen vor den Gerichten immer wieder, wie ehrenvoll die Wehrmacht gekämpft und sich auch so der eigenen und besiegten Bevölkerung und Soldaten gegenüber verhalten hätte. Darüber gibt es Nachkriegs-Absprachen. Mit dem Zeigen auf die Verbrechen der anderen (SS) wollten die ehemaligen Wehrmachtsoffiziere von den eigenen Verbrechen ablenken, sie vertuschen, was ihnen schließlich auch über Jahrzehnte hinweg gelang. Ohne der Person des Berichterstatters etwas unterstellen zu wollen, erinnern doch einige seiner Formulierungen an solches Verhalten früherer Wehrmachtsoffiziere. – Der Zeitungsartikel hier ist an zwei Stellen gekürzt wiedergegeben. Die Kürzungen sind an anderer Stelle thematisch eingeordnet (Lynchmorde). Zudem haben wir die Rechtschreibung der inzwischen erfolgten Reform angepasst und wegen einer besseren Lesbarkeit Zwischenzeilen gesetzt (W. St.).

Dr. K. von Seeger
Stuttgart-Degerloch, d. 14. 6. 1946
Ahornstr. 45

Am 10. Januar 1945 wurde Oberstleutnant Rosenau zum Standortältesten von Rothenburg o. Tbr. ernannt. Am gleichen Tage wurde ich zum Standortoffizier von Rothenburg ernannt. Ich hatte hierdurch einen sehr guten Einblick in die dortigen Verhältnisse, obgleich ich bei weitem nicht in alle Vorgänge eingeweiht wurde. Ich möchte deshalb nur diejenigen Vorfälle schildern, an denen ich persönlich beteiligt war.

Rothenburg nicht zur Lazarettstadt erklärt

Anfang Januar (1945) rief mich in Abwesenheit von Oberstleutnant Rosenau Kreisleiter Erich Höllfritsch an und sagte mir, Angehörige der Wehrmacht würden in der Stadt das Gerücht verbreiten, dass Rothenburg zur Lazarettstadt erklärt würde. Er selbst wäre, wie er wörtlich sagte, als Hoheitsträger der Partei sehr erstaunt, dass er hiervon überhaupt nichts wisse. Ich erwiderte ihm, dass in jeder Wirtschaft dies das Tagesgespräch sei. Aus dem außerordentlich gereizten Ton, den er mir gegenüber anschlug, und der merkwürdigen Frage, was man unter einer Lazarettstadt verstehe, hatte ich sofort den Eindruck, dass Höllfritsch sich mit allen Mitteln dagegen wenden würde, dass Rothenburg zur Lazarettstadt erklärt würde. Besonders peinlich berührt hat ihn anscheinend meine Bemerkung, dass selbstverständlich auch der Volkssturm in keiner Weise irgendwie in Erscheinung treten dürfte. Er sagte z. B. unter anderem: „Wenn das geschieht, dann kann man ja in kein Café mehr gehen, weil dann alles voll von Ausländern sitzt.“ Ich erwiderte ihm, dass wir mit dieser Frage überhaupt nichts zu tun hätten. Das einzige Resultat, das bei der Unterredung herauskam, war, dass ich mich dienstlich bei meinem Vorgesetzten über den Ton des Herrn Höllfritsch beschwerte. …

Keine Jungen an die Front, Mütter dankten Karl von Seeger unter Tränen

In den ersten Apriltagen trat Kreisleiter Höllfritsch an Oberstleut­nant Rosenau mit dem Ansinnen heran, sämtliche Jungen im Alter von 15 bis 17 Jahren zur Wehrmacht einzuziehen. Ich erwiderte Rosenau: „Das ist eine Hundsgemeinheit und eine ganz gemeine Falle. Höllfritsch weiß ganz genau, dass er mit dieser Maßnahme das ganze Odium der Bevölkerung auf uns abladen will.“ Ich habe wörtlich damals zu Rosenau gesagt: „Herr Oberstleutnant, Sie wollen ja auch im Frieden einmal nach Rothenburg kommen. Wenn Sie das tun, was der Kreisleiter jetzt von uns verlangt, dann schlagen die Rothenburger uns später tot, und das mit Recht.“ Daraufhin gab Rosenau dem Kreisleiter einen abschlägigen Bescheid. Allein Höllfritsch wandte sich an das Wehrmeldeamt (oder WBK?) in Ansbach. Bereits zwei Tage nach der Besprechung überbrachte ein Kradfahrer des Wehrmeldeamts Ansbach die Gestellungsbefehle nach Rothenburg. Und nun kam das, was wir alle erwartet hatten. Die Mütter und Jungen heulten uns die Bude voll. Mein Dienstzimmer wurde zur Kinderstube und Mütterberatungsstelle. Mit meinem ausgezeichneten Hauptmann Eckert hatte ich mich hinter dem Rücken von Rosenau, der hiervon niemals etwas erfahren hat, dahin verständigt, dass sämtliche Gestellungsbefehle von uns abgestempelt wurden mit dem Vermerk: „Meldung am 25. 4. 1945, denn wir wussten ganz genau, dass bis dahin Rothenburg nicht mehr in unserem Besitz sei. Wie viele Mütter haben mir das auf der Straße unter Tränen gedankt.

Auseinandersetzung der Wehrmacht mit dem Kreisleiter wegen Segeltuch

Am 10. April meldete der Leiter der Marinedienststelle in Rothenburg, dass sie Befehl zum Abrücken hätten. Das sehr große, viele tausend Meter Segeltuch umfassende Lager konnte nicht mitgenommen werden und ging deshalb in den Besitz der Kommandantur über. Sofort wurde mit Herrn Stadtamtmann Wirsching vereinbart, dass das gesamte Material an Segeltuch vollständig kostenlos zur Verfügung gestellt wurde. Wenige Stunden später begann die völlig reibungslose Verteilung an die Bevölkerung. Nach zwei Stunden rief die Kreisleitung bei mir an, woher das Segeltuch stamme. Ich erwiderte, das Material wäre Eigentum der Wehrmacht und der Stadt Rothenburg zur Verteilung an die Bevölkerung zur Verfügung gestellt. Kurzerhand ließ hierauf die Kreisleitung den gesamtem Vorrat durch das Landratsamt beschlagnahmen.

Kriegsgerichtliches Verfahren?

Am 13. 4. 1945 wurde mir eröffnet, dass von einem Oberst beim Führer einer Artillerieeinheit das kriegsgerichtliche Verfahren wegen Sabotage der Front gegen mich bei Generalleutnant Simon (SS) beantragt sei. Der Grund war, dass ich ca. 30 Verfahren gegen

verschiedene Einheiten, in erster Linie der Luftwaffe und der SS, wegen schwerer Plünderung eingereicht hatte. Leider sind mir die Namen der einzelnen Bürgermeister und Bauern vollkommen entfallen. Als Zeugen kann ich nur noch Herrn Eberlein von Tauberzell benennen.

Nachtrag Karl von Seegers 1956 – zehn Jahre später

Stuttgart-Degerloch, d. 30. April 1956. Zu meinem Bericht vom 14. 6. 1946 möchte ich heute folgende ergänzende Mitteilung machen:

Am Sonntag d. 15. 4. 1945 führte ich eine eingehende Erkundung vor den letzten deutschen Posten durch. Ich war mir vollkommen bewusst, dass jeglicher Widerstand zwecklos sei und das Ganze mit der Zerstörung der Stadt enden würde. Ich erwog deshalb alle Möglichkeiten zur Rettung der bereits so schwer geprüften Stadt. So erwog ich den Gedanken, auf eigene Faust zu handeln und unmittelbar den Amerikanern die Übergabe anzubieten. Allein es handelte sich hier nicht um Übergabe, sondern um Räumung von Einheiten, über die ich keine Befugnis hatte.

Stadtamtmann Wirsching in Kenntnis gesetzt

Ich setzte deshalb meinen ganzen Einfluss dafür ein, dass Rothenburg sofort geräumt würde. Nach langen Verhandlungen am 16. April mit dem Kommandeur der im Abschnitt eingesetzten 79. Volksgren.-Div. wurde endlich erreicht, dass Rothenburg in der Nacht vom 16. auf 17. April zu räumen sei. Der Räumungsbefehl war streng geheim. Da aber mit einem Nachtangriff durch amerikanische Artillerie zu rechnen war, galt es für mich, sofort zu handeln. Ich setzte mich deshalb unmittelbar nach der militärischen Besprechung mit Herrn Stadtamtmann Wirsching in Verbindung und setzte ihn in Kenntnis. Es wurde vereinbart, dass in der gleichen Nacht noch durch eine zuverlässige Mittelsperson Verbindung mit dem amerikanischen Abschnittskommandeur aufgenommen werde. Er musste die Gewissheit haben, dass Rothenburg nicht als Stützpunkt für einen Widerstand dienen würde. Am Morgen des 17. April um 6 Uhr 30 verließ ich zu Fuß Rothenburg.

Als ich am 18. April nachmittags in Feuchtwangen eintraf, fand ich auf dem Dienstzimmer des dortigen Volkssturms nachstehenden Bericht:

„Meldung über kampflose Aufgabe Rothenburgs falsch. Gewährsmänner versagt. Richtig: Kreisleiter und Kreisstabsführer haben heu­te vom 17/18. 4. bei mir in Dombühl übernachtet, folgendes angegeben: Am 16. 4. kamen Amer. Parlamentäre nach Rothenburg, die zu­nächst aufschiebend Bescheid erhielten auf 17. früh. Am 17. früh haben Kreisleiter und Kreisstabsführer unmittelbar ein bis 2 km nördlich Rothenburg aufgeklärt und wurden aus nächster Nähe beschossen. Eine Frontlücke wurde festgestellt, die von einer Versprengtenkompanie besetzt sein sollte, die aber leider ihre Stellung verlassen, wodurch überraschend durch feindl. Infanterie Rothenburg besetzt wurde. Kreisleiter mit letzter Wehrmacht abgesetzt. HKL Leutershausen-Schillingsfürst.“

Zu diesem Bericht habe ich zu bemerken: Die Versprengtenkompanie unterstand der Kommandantur Rothenburg. Sie wurde mit reiflicher Überlegung nicht eingesetzt. Wäre sie eingesetzt worden, so wären die Amerikaner auf Widerstand gestoßen, damit aber wäre eine kampflose Besetzung vollkommen illusorisch gewesen, ebenso auch die Aktion von McCloy.

 

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