Dass man den jüdischen Bürgern ihre Heimat genommen hat, wurde an den „Rothenburger Heimattagen 1950“ nicht erwähnt. – Noch lange wurde am althergebrachten Begriff festgehalten

Tanz der Siebenbürger

Tanz der Siebenbürger

W. St. – Heimat ist übrigens ein Wort, das es fast nur im Deutschen gibt. Der Begriff gilt als unübersetzbar, denn das englische Home meint auch Haus, das türkische Vatan auch Vaterland. „Heimat“ ist vom germanischen „Heim“ abgeleitet, das auch Haus oder Wohnort meinte. Heimat kann auch eine Erinnerung sein oder ein geliebtes Objekt. Heimat enthält aber auch Kehrbilder wie die Heimatlosigkeit, die Heimatflucht oder den Heimatwechsel. Heimat kann auch eine Kategorie sein, um andere auszuschließen. Beispielsweise im Nationalsozialismus die jüdischen Bürger. Bei den „Rothenburger Heimattagen 1950“ wurden viele Reden gehalten: von Regierungsvertretern, Vertriebenenfunktionären und von Rothenburger Kommunalpolitikern. Dies alles fand Niederschlag in der Lokalzeitung. Während der Wert der Heimat und das Recht darauf, das man den Schlesiern, Pommern und Ostpreußen genommnen hatte, und dieses Recht als unverzichtbar erklärt wurde, hat man nicht an die gedacht, denen man ihr Recht auf Heimat (und in der Folge auch ihr Recht auf Leben) weggenommen hatte, den Rothenburger Juden. Die, welche in Auschwitz oder anderen Lagern nicht ermordet wurden, mussten eine neue Heimat finden – in Großbritannien, Schweden, Palästina, den USA, der Schweiz und anderswo. Die gewaltsame Vertreibung der Rothenburger jüdischen Glaubens, deren Besitz aufgeteilt wurde, war erst sieben Jahre her. Warum gedachte man ihrer an den „Rothenburger Heimattagen 1950“ nicht? Weil sich sonst die Täter zur Vertreibung hätten bekennen müssen. Denn sie blieben nicht nur in ihrer Heimat Rothenburg, sie saßen auch wieder in Amt und Würden, in Amtsstuben, ab 1952 sogar wieder im Stadtrat. Warum sich also mit dem Schicksal derer belasten, die nicht mehr da sind? Schließlich hatte man ja genug Ärger mit der Rückgabe der ihnen abgenommenen Häuser an die einst Vertriebenen oder deren Erben.

Deutschsprachige Zeitung im frühen Israel

Deutschsprachige Zeitung in Israel 1985

Unschuld, Nichtwissen, Schweigen

Schweigen legte sich über das Land. Man hatte die Schuldigen der NS-Verbrechen in Nürnberg und Landsberg gehängt, man war selbst „entnazifiziert“ und baute wieder auf, was der Krieg zerstört hatte, zumindest die sichtbaren Ruinen, man „war wieder wer“! Schuld erkannte man bei sich nicht. Schlimmstenfalls war man Befehlsempfänger gewesen, außerdem hatte man von den Verbrechen angeblich nichts gewusst!

Begriff im Nationalsozialismus propagandistisch missbraucht

Ein Heimatspruch

Ein Heimatspruch

Der Heimatbegriff war 1950 noch so in den Köpfen vieler verankert, wie er im  Nationalsozialismus zwölf Jahre benutzt worden war. „Heimat“ wurde bis 1945 in Verbindung mit der Fiktion einer homogenen „Volksgemeinschaft“ überhöht und auch in Bezug auf „Heimatgefühle“ im Menschen propagandistisch missbraucht. Der Begriff diente zur Abgrenzung  zwischen Freund und Feind. Mit diesem und ähnlichen kultischen Begriffen wurde ein künstliches Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen. Diese auf die Blut- und Boden-Ideologie gegründete Gemeinschaft, an die unentwegt appelliert wurde – man muss nur den „Fränkischen Anzeiger“ durchblättern –, sollte sich nicht zuletzt im Krieg gegen den äußeren Feind als „Gemeinschaft zum Tode“ in Form des unbedingten Heldentum und der absoluten soldatischen und zivilen Aufopferung für die Nation bewähren.
Vor und nach dem Krieg ging für viele Deutsche die Heimat verloren. In den Köpfen derer, die sie verlassen mussten, vermischten sich dabei die unterschiedlichen Gefühle von Heimat, die althergebrachten und persönlich erfahrenen sowie die propagandistisch überhöhten. Wehmut über einen „Verlust der Kindheit“ vermischte sich mit Forderungen nach Rückkehr, weil es eben die eigene deutsche Heimat, der deutsche Boden ist, dessen Boden durch den gewaltsamen Erwerb vor Jahrhunderten mit Blut getränkt ist. Das in der NS-Zeit propagierte Lied „Siehst du im Osten das Morgenrot“ hatte den eingängigen Refrain „Volk ans Gewehr“. Schließlich legte sich 1945 das Abendrot über die Heimat im Osten. In der jungen Bundesrepublik blieb der Begriff „Heimat“ genauso wichtig wie in den Jahren davor.

Durch Heimatfilme von den Nachkriegsproblemen ablenken

"Schwarwaldmädel" von 1950

“Schwarwaldmädel” von 1950

Nach 1945 wurde Heimat aufgrund der besonderen deutschen Nachkriegssituation von den Heimat- und Vertriebenenverbänden politisch instrumentalisiert, indem sie das „Recht auf Heimat“ zu ihrem wichtigsten politischen Ziel erklärten: „Oder-Neiße niemals Grenze!“ hieß es damals. Bevor in den 1960er-Jahren eine kritische Neubeschäftigung mit dem Begriff Heimat einsetzte, öffneten sich die Deutschen einer Flut von idyllischen Heimatfilmen. Dieses Genre verhalf Anfang der 1950er-Jahre zum tränenerstickten Sehen auf das Schöne. Mit anderthalb Stunden Gemütsreise vor der Leinwand sollte der Blick auf die schweren äußeren Zerstörungen der Städte und auf das Unrecht des Nationalsozialismus abgelenkt werden.

Die Blütezeit des deutschen und österreichischen Heimatfilms waren die 1950er-Jahre. Als in Rothenburg die „Heimattage 1950“ stattfanden, lief in den Kinos gerade der Film „Das Schwarzwaldmädel“ mit Paul Hörbiger und Sonja Ziemann sowie „Kind der Donau“ mit dem NS-Star Marika Rökk an. Wurden Anfang der 1950er-Jahre jährlich bis zu vier Filme dieser Art produziert, waren es 1956 schon 16. Auch die sozialen Folgen des Zweiten Weltkriegs –  wie verwaiste Familien, Autoritäts- und Werteverlust – wurden mit idyllischen Gegenbildern aufgearbeitet, die den Zuschauern eine kurze Reise in die heile Welt der Heimatfilme ermöglichten. Allerdings handelt es sich bei vielen Heimatfilmen der 1950er- und 1960er-Jahre, das sollte man wissen, um Neuverfilmungen von Goebbels’ UFA-Propaganda-Filmen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Der Stoff dieser Filme wurde 1947 von den Alliierten als unbedenklich eingestuft und für Neuverfilmungen freigegeben.

Hauptschulen änderten die Lehrpläne: weg vom alten Heimatbegriff

Bis in die 1960er/70er-Jahre hinein sollten die Lehrpläne für das Fach „Heimatkunde“ in den Volksschulen der Bundesländer mit der „Erschließung der räumlichen und geistigen Kinderheimat“ Schulkinder noch zu „Heimatliebe“ und „Heimattreue“ erziehen, was laut Lehrplan über eine „Gesinnungs- und Gemütsbildung“ ein „Heimatbewusstsein“ sowie eine „Bindung an die Heimat“ bewirken sollte. 1969 wurden in den meisten Bundesländern die „Heimatkunde“-Fächer in „Sachunterricht“ umbenannt, weil Pädagogen und Historiker den Begriff und den Inhalt des „Heimatkunde“-Fach kritisierten. Sie bemängelten, dass der gesellschaftliche Wandel und die zunehmende Mobilität der Menschen nicht berücksichtigt würden, es eine Diskrepanz zwischen einem zu lehrenden „heilen bäuerlich-handwerklichen Idyll“ mit der erfahrbaren Praxis gäbe und die Ideologisierung heimatgeschichtlicher Inhalte weiter bestünde. In diesem Zusammenhang kritisierte die Wissenschaft auf einer Tagung der Bundeszentrale für politische Bildung 2004 in der Universität Hannover, dass  der Heimatbegriff stets mit den antidemokratischen und völkischen Tendenzen in der Gründungszeit des Natur- und Heimatschutzes sowie der rassistischen Interpretation im Nationalsozialismus verbunden bliebe. Die Mehrheit der Teilnehmer sprach sich daher gegen die Verwendung des Heimatbegriffs auch im Planungsrecht und in der offiziellen Verwaltungssprache aus. Kritisiert wurde auch die Vorstellung, Menschen seien „in ihrer Heimat verwurzelt“: Bäume und andere Pflanzen seien wirklich durch Wurzeln daran gehindert, von sich aus ihren Standort bzw. ihren lokalen Bezug zu wechseln; das treffe aber auf Menschen und Tiere nicht zu.

Heimat-zitat-heinrich-boll-1917-1985-130102Martin Walser: Ein Begriff für Zurückgebliebenheit

In jedem Fall ist der Begriff „Heimat“, so die Fachwissenschaft heute, nach wie vor mit vordefinierten Bedeutungen besetzt. Heimat ist im allgemeinen Sprachgebrauch in erster Linie auf den Ort bezogen, „in den der Mensch hineingeboren wird, wo die frühen Sozialisationserfahrungen stattfinden, die weithin Identität, Charakter, Mentalität, Einstellungen und auch Weltauffassungen prägen“, so steht es in der Brockhaus-Enzyklopädie“ von 1989. Martin Walser prägte bei seiner Bewertung 1972 das Bonmot: „Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit.“ Mit dem Wort „Zurückgebliebenheit“ spielt Walser sowohl auf den angeblichen Mangel an räumlicher Mobilität als auch auf die angebliche geistige Beschränktheit der ihre Heimat Liebenden an.

Siehe zu diesem Ereignis folgende und erweiternde Artikel:

Rothenburger Heimattage 1950: Ein Bierkrüge und Tanzbeine schwingendes aber auch nostalgisch-ernstes Ereignis. „Heimat ist Glück“ – Eine Momentaufnahme zu einem strapazierten Begriff

Ausstellung zum Wiederaufbau der zerstörten Stadt – Bestandsaufnahme nach fünf Jahren im Rahmen der „Rothenburger Heimattage 1950“ – Ein Rundgang im Rathaus und auf der Stadtmauer

Weiterführende Artikel zum Thema Heimatvertriebene:

1950 stellten Ost- und Westpreußen, Ungarn und Wolhynier, Siebenbürger und Sudetendeutsche, Pommern und Balten, Ober- und Niederschlesier 35 Prozent aller Einwohner

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Quellen: Brockhaus – Die Enzyklopädie in 24 Bänden, 20., neubearbeitete Auflage, Leipzig, Mannheim, F.A. Brockhaus 1996-99. – Wikipedia (Aufruf Februar 2016). – Bienik (Hg): „Heimat. Neue Erkundungen eines alten Themas“, München, Hanser 1985. – W. Cremer und A. Klein (Hg):  „Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven“, Bd.249/I Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2002. – Ute Vorkoeper: „Heimat. Eine Einführung“, in Zeit-online.

 

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