„Die verschnürten Briefe“ sind nicht nur Zeugnisse der großen Liebe der Eltern, sondern auch des ungebrochenen Festhaltens Fritz Gehringers an der SS-Ideologie über 1945 hinaus

Der Vater, die Mutter, die Briefe, das Buch: Fotos (...): privat

Der Vater, die Mutter, die Briefe, das Buch: Fotos (…): privat

Von Wolf Stegemann

Es ist ein schwergewichtiges Buch. Nicht, weil es ganze 1,1 Kilogramm auf die Waage bringt, sondern vom Inhalt her, den, in sich aufzunehmen, dem Leser einiges abverlangt. Wie in ein Bild, in das man „hineingehen“ muss, um es zu verstehen, mag es dem einen oder anderen Leser auch bei Bernhard Gehringers Textwerk über die Geschichte der jungen Liebe seiner Eltern zwischen 1939 und 1947 gehen, dem er den Titel „Die verschnürten Briefe“ gegeben hat. Die rund tausend Schreiben, nach dem Tod der Eltern in einem Schuhkarton zufällig entdeckt, sind der Ausgangspunkt eines Rückblicks auf eine Zeit des NS-Regimes und des Krieges, denen die Niederlage folgte. Für manche schmerzhaft und offensichtlich nicht befreiend. So auch für Fritz Gehringer, dem Vater, der an den Werten der SS über 1945 hinaus festhielt. Als er im Sommer 1945 als Kriegsgefangener in einem Lazarettzug von der Normandie in das Kriegsgefangen-Durchgangslager Bad Aibling gebracht wurde, schrieb er am 30. Juli, dass er sich über die Haltung der besiegten Deutschen gegenüber den Amerikanern geschämt hätte und er „traurig berührt“ war, wie deutsche Frauen mit den US-Soldaten anbandelten: „Dafür haben wir also gekämpft und geblutet, dafür sind so viele Tausende gefallen.“ – Ob er auch an die Millionen ermordeter Juden gedacht hatte? Darüber gibt er in seinen Briefen keine Auskunft.

Sein ungebrochener Stolz auf die SS schadete seiner Politkarriere nicht

xxxx und ihr Fritzi als SS-Offizier

Verlobte: Irmi Schlör und ihr Fritzi als SS-Offizier

Sein Sohn Bernhard hatte als Autor mit der Herausgabe dieses Buches Mut, den es zu würdigen gilt: Mut, weil er einen nicht alltäglichen Blick in die Familie freigibt, Mut, weil er sich mit der Denkweise vor allem seines Vaters, der das verbrecherische System des Nationalsozialismus vom Pimpf bis zum SS-Leutnant durchlebte und bis ins Lebensalter hinein ungebrochen dazu gestanden hatte. Als junger Mann kannte er kein anderes System, aber danach? Bei einem Ende September 1981 in Rothenburg stattgefundenen Bundeskadettentreffen (Schirmherrschaft Louis-Ferdinand Prinz von Preußen) im Beisein des früheren legendären Panzergenerals Walther Wenck (12. Armee) erklärte Gehringer öffentlich als begrüßender 1. Bürgermeister, dass er stolz sei, der SS angehört zu haben. Das brachte ihm, dem Lehrer, nicht nur eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein, sondern auch bundesweit negative Schlagzeilen. Seinem politischen Wirken in Rothenburg schadete dies allerdings nicht. Dazu schreibt der Sohn: „Eine Tendenz zum ungebrochenen Bekenntnis – Außenstehende würden von Glorifizierung sprechen – bezüglich der Werte Ehre, Treue und des Elitegedankens der Waffen-SS war unverkennbar.“ Fritz Gehringer war nicht nur in der kämpfenden Waffen-SS; von 1943 bis 1945 gehörte er auch freiwillig der Allgemeinen SS an.

In unverbrüchlicher Treue und Aufrichtigkeit

Fritz Gehringer als HJ-Führer

Fritz Gehringer als HJ-Führer

Ein Buch wie dieses zusammenzustellen, die speziellen politischen Hintergründe und den Alltag in Rothenburg aufzuzeigen, diese auf die private Ebene zweier Liebenden zu bringen und es schließlich öffentlich zu machen, ist kein leichtes Unterfangen. Der Leser mag das gut finden oder auch nicht. Sohn Bernhard Gehringer, Jahrgang 1949 und Lehrer, wusste das. Denn in seiner Vorbebemerkung schreibt er: „Was ich von dem Briefwechsel der beiden Liebenden nur habe auffinden können, habe ich mit Mühe gesichtet und lege es dem Publikum hier vor, und weiß doch nicht, ob mir Dank zuteil wird. Man kann ihren Idealen und ihrem Streben sehr wohl seine Zustimmung versagen, nicht aber ihrer Aufrichtigkeit und Treue.“ Das mag etwas verwirren, denn dem Leser wird nicht erklärt, welche Treue angesichts des Festhaltens Fritz Gehringers an den Werten der SS gemeint ist. Vermutlich die „Aufrichtigkeit und Treue“ der Liebenden zueinander.

Eine tiefe Liebe offenbart sich in den Briefen

Eingebettet in den Glauben an die NS-Ideologie, die Gerechtigkeit des Krieges und somit an den Sieg erfährt der Leser aus den Briefen von den Fronten an die junge Braut in der Rothenburger Heimat – und von dort zum Bräutigam an die Front – eine tiefe Liebe der beiden zueinander, so dass bisweilen das Kriegsgeschehen an der Front und in der Heimat, wenn auch etwas lapidar dargestellt, in den Hintergrund tritt. Doch sie verleihen den Briefen eine starke Authentizität.

Die Eltern in Rothenburg

Die Eltern in Rothenburg

Als Fritz Gehringer als Gefolgschaftsführer mit der Hitlerjugend und mit dem Reichsarbeitsdienst noch in den Zeltlagern war, berichten seine Briefe an Irmi Schlör, dass es ihm gut gehe, die Landschaft schön sei und das Wetter strahle. Er beschrieb das, was er sah und erlebte, oft mit überschwänglicher Poesie. Oft fällt ihm Goethe ein, den er zitiert. Als auch für Gehringer der Krieg Realität wurde, und er von der Hitlerjugend in die Allgemeine SS und in die Waffen-SS eintreten konnte, schrieb der 19-Jährige: „Ich habe Glück“. Gehringer gehörte seit April 1943 der SS-Gebirgsdivision „Nord“ an, kämpfte in Karelien (Nordfinnland), besuchte 1944 die SS-Junkerschule Klagenfurt, kämpfte zuletzt in den Vogesen, wurde verwundet und von den Amerikanern gefangengenommen. Er hatte beide Klassen des Eisernen Kreuzes, das Infanterie-Sturmabzeichen in Silber und das Panzervernichtungs-Abzeichen verliehen bekommen.

Amerikaner aus dem Odenwald vertrieben – man atmet wieder durch

Das Glück kannte scheinbar keine Grenzen. 1943 war er auf der „Neidenfels“ vor Norwegen und schrieb seiner Braut: „Ich sitze hinten am Heck unter dem Flakstand und füttere Möwen, die unser Schiff umkreisen. Es ist mein dritter Tag auf See, ein herrlicher Morgen.“ Seine Beschreibungen über den Krieg, an dem er gerade teilnahm, sind nicht aufregend, mehr so, als befände er sich auf einem Spaziergang, wo alles bestens sei und er und seine Kameraden die Besten. Am 11. März 1945, wenige Woche vor dem absehbaren Ende, schrieb er aus dem Hunsrück seiner „liebsten Irmi“:

„Unser Alter (Chef der Einheit) wurde zum Eichenlaub vorgeschlagen… Hoffentlich geht der Vorschlag durch. Es wäre fabelhaft.“ Und seine Liebste berichtet ihrem „liebsten Fritzl“, dass sich die Kriegslage gebessert habe, die Panzerspitzen (der US-Armee) seien vernichtet und der Odenwald von ihnen gesäubert worden. „Man atmet also wieder etwas durch.“

Jugendamnestie – aus der Internierung entlassen

Zwei Jahre war ihr Fritzl als SS-Offizier interniert, zuletzt in Regensburg. Dort wurde er am 10. April 1947 von der Lagerspruchkammer entnazifiziert und amnestiert. In der Begründung steht u. a.:

„Da er während des Krieges weder ein brutales noch ein verwerfliches Verhalten an den Tag gelegt hat, insbesondere am Bewachen von KZ- und Kriegsgefangenenlagern nicht beteiligt war, ist er einer milderen Beurteilung würdig. Damit fällt er automatisch unter die Jugendamnestie…“

Daraufhin schrieb ihm seine Braut aus Rothenburg am 13. April:

„Wie soll ich Dir bloß meine große Freude, das übergroße Glück, das mein Herz erfüllt, kundtun? Liebster Du! Du bist also amnestiert, bist frei? Ach Fritzl, und wirst bald zu mir kommen! Endlich ist die Stunde da! Jetzt kann ich mich richtig freuen, und so rein und ohne Zweifel, wie diese Freude ist, so ein Glücksgefühl erfüllt mein Herz, dass es fast zerspringen möchte…“

Das Elternhaus in Der Judengasse, wie es früher einmal war

Das Elternhaus (li.) in der Judengasse, wie es früher einmal war

Heirat in Rothenburg auch ohne erwünschten Endsieg

Die Stunde kam am 28. April 1947. Fritz Gehringer wurde nach Hause entlassen. Zwei Tage vorher schrieb er seiner Liebsten einen langen Brief, der mit den Sätzen endete:

„Weißt Du, worüber ich schon so oft gegrübelt habe? Wie die ersten Stunden sein werden, die wir dann zusammen sein dürfen. Und weißt Du, worüber noch? Ob ich Dich überraschen soll mit meinem Kommen oder Dir noch vorher telegraphieren. Unverbesserlich, dieser Mensch, wirst Du sagen, aber gegen diese Hoffnungsfreude ist nun mal kein Kraut gewachsen!“

Eigentlich wollten Fritz und Irmi erst nach den „Endsieg“ heiraten. Doch sie heirateten auch ohne Sieg 1948. Fritz Gehringer wurde Volksschullehrer an der Topplerschule und Sportlehrer an der Mittelschule, war in Vereinen tätig, spielte den Tilly im „Meistertrunk“ und ging mit seiner rechten Gesinnung für die FRV in die Kommunalpolitik. Auf die Frage von Dieter Balb vom „Fränkischen Anzeiger“, ob die Briefe beim Sohn und Autor die Sicht auf die Eltern verändert hätten, antwortete Bernhard Gehringer: „Vor allem meine Mutter sehe ich heute in einem anderen Licht, zwar naiv und blauäugig, aber auch sehr liebenswert. Beim Vater habe sich bestätigt, dass für ihn die Einstufung der SS als kriminelle Organisation unverständlich geblieben ist und er sich mit der neuen Zeit schwer tat.“ Fitz Gehringer starb 1996, seine Frau 2005.

Wie der Kunstmaler Adolf Hosse in die Familie kam

Im letzten Teil des Buches beschreibt Bernhard Gehringer in zehn Geschichte Orte, die in Bezug zu seinen Eltern oder Großeltern stehen. Die meisten davon in Rothenburg und der Umgebung wie beispielsweise „Am Steffelesbrunnen“, „Das Schandtaubertal“, „Im Blinktal“ und „Das Bamaland“. In der Geschichte des von dem Rothenburger Kunstmalers Adolf Hosse entworfenen und 1925 auf der Engelsburg aufgestellten  „Bismarcksteins“ erläutert Bernhard Gehringen das interessante Verwandtschaftsverhältnis zwischen Hosse und seiner Familie. Das Buch schließt mit der Geschichte des Elternhauses in der Judengasse, Fundort der verschnürten Briefe. Das Haus wurde im Krieg zerstört und mit den dürftigen Mitteln der Nachkriegszeit wieder aufgebaut. Nur nicht so und ohne wuchtigen Treppenaufgang, wie das Haus einmal war. Auf einem Gemälde aus dem Jahre 1929 und alten Postkarten war es vorher ein sehr romantisch anmutender Platz.

Gehringer-Titel„Verschnürte Briefe“ ist ein wichtiges Buch

Das Buch gibt Zeugnis davon, wie nationalsozialistische Ideologie mit Propaganda in die Köpfe der Jugendlichen zwischen 1933 und 1945 eingetrichtert wurde. Hunderttausende blieben ihr Leben lang „verseucht“. Auch mit dem Wissen um die Verbrechen in den Konzentrationslagern, gegenüber der eigenen Bevölkerung und im Krieg gegen andere. Und einer von ihnen war offensichtlich Fritz Gehringer. Dies macht die Lektüre dieses Buches deutlich. Die Auseinandersetzung des Sohnes Bernhard Gehringer mit seinen Eltern, vor allem mit seinem Vater Fritz Gehringer, einer von den Hunderttausenden, macht dieses Buch wichtig.

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Bernhard Gehringer: „Die verschnürten Briefe. Geschichte einer Jugendliebe 1939-1947“, 400 Seiten, zahlreiche Fotos und Abbildungen, Format 17,5 x 25 cm, Leinen mit Schutzumschlag, Selbstverlag 2015, Euro 29,60. Zu bestellen: In Rothenburg in der Buchhandlung Robanus, ansonsten unter: info@bernhard-gehringer.de

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Ein Kommentar zu „Die verschnürten Briefe“ sind nicht nur Zeugnisse der großen Liebe der Eltern, sondern auch des ungebrochenen Festhaltens Fritz Gehringers an der SS-Ideologie über 1945 hinaus

  1. Klaus Maiwald sagt:

    Was soll dieses Buch? Und diese arg weichespülte Rezension? Gehringer war begeisterter Waffen-SS-Offizier und hat nach dem Krieg sein angebräuntes Gedankengut weitergelebt: doch noch ein bisschen Herrenmenschentun hoch zu Ross als Tilly; als prügelnder und auch sonst furchtbarer Volksschulehrer (Jggst 3., 1967/68); als Bürgermeister, der das gesunderhaltende Militärische feierte (1981).
    Der Sohn ist um diesen Vater nicht zu beneiden. Warum aber setzt er ihm dieses Denkmal? Was will er mit diesem Buch uns, was will er vor allem sich selbst sagen, zeigen, beweisen? Dass der Vater ein jugendliches (nur halb- bis unschuldiges?) Opfer der NS-Indokrination war? Man musste kein Waffen-SS-Offizier auf der Junkerschule werden, man konnte sich auch anders entscheiden, und vor allem konnte man später zu Einsicht und Abkehr kommen. Gehringer konnte das nicht. Dass “treue” Nazis gleichzeitig “treue” Familienmenschen sein konnten? Das wusste man schon. Was heißt das? Waren sie deshalb nur halb so schlimm? Vielleicht hat dem Sohn dieses Buch geholfen, um seine Familenvergangenheit zu bewältigen. Aber warum tut er das in der Öffentlichkeit? Andere stehen gar nicht vor dieser Frage: Mein Großvater, ein Buchbinder und Zitherspieler und Nicht-Nazi, musste 1945 sterben, weil er in ungeheizten Zügen in die Munitionsfabrik gekarrt wurde, für den von Fritzi, Irmi et al. fantasierten Endsieg. Ich durfte ihn nie kennenlernen. Seine Frau brachte 12 Kinder über die Runden, sie starb 1981. Fein verschnürte Brieflein waren den beiden nicht vergönnt. Schade, sie (!) hätten wirklich ein Denkmal verdient.

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