Sondergericht (11): Rothenburger US-Bürgerin Sadie Walker nannte 1941 in einem Brief das Reich als Irrenhaus, schrieb von Mördern und Dieben sowie über Selbstmorde unter Juden

Von Wolf Stegemann

In Rothenburg lebte die ledige US-Bürgerin Sadie Walker als Musiklehrerin. Von 1903 bis 1910 studierte die 1883 in Cleveland (Ohio) geborene Amerikanerin in Berlin Musik. Sie lebte seit 1923 ununterbrochen in Europa und ab 1932 in Rothenburg ob der Tauber. Hier  scheint sie nicht sonderlich aufgefallen zu sein, zumindest ist über ihr Leben in Rothenburg kaum etwas bekannt. Aufgefallen ist sie erst 1941, als sie ihrer Freundin Bertha U. McKee in Washington D. C. einen Brief schrieb, der die Adressantin nie erreichte. Denn er wurde von der deutschen Auslandsbriefpoststelle (A.B.P) in Frankfurt am Main abgefangen, geöffnet, übersetzt und gelesen. Der Briefinhalt brachte sodann Gestapo-Dienststellen in Frankfurt am Main, Berlin, in Nürnberg-Fürth, das Landratsamt Rothenburg und die Schutzpolizei-Abteilung Rothenburg in Bewegung. Hier wurde als Zeugin auch die Tochter des angesehenen Malers Wilhelm Schacht, Babette Schacht vernommen, die im Beisein ihrer Freundin Sadie Walker Feindsender abhörte. Bei der Vernehmung gab Babette Schacht an, am Radiogerät aus Versehen in den Sender gerutscht zu sein. Der Schupo-Revierleiter Droßel an den Landrat in Rothenburg ob der Tauber:

„Die Familie Schacht genießt hier guten Ruf. Es ist keine Wahrnehmung gemacht worden, dass sich diese staatsabträglich betätigt oder ihre Beziehungen zu solchen Personen den Schluss zulassen würden.“

Babette Schacht, die jahrelang mit Sadie Walker befreundet war, sagte bei ihrer Vernehmung:

 „Ich habe mit der Walker weder früher noch heute eine Freundschaft gepflogen, sie ist mir eigentlich nicht sympathisch.“

Der Ankläger beim Sondergericht Nürnberg nahm die Rothenburger US-Bürgerin in Untersuchungshaft und das Sondergericht Nürnberg verurteilte sie wegen eines Vergehens gegen das Heimtückegesetz am 10. Februar 1942 zu sieben Monaten Gefängnis. Vorsitzender Richter war Landgerichtsdirektor Oeschey, Beisitzer Landgerichtsrat Dr. Meyer und Amtsgerichtsrat Groben; die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Dorfmüller.

Urteil

Ermittlungen der Gestapo

Aufwändige Polizeiermittlungen im Freundeskreis

Anklage und Gericht warfen Sadie Walker eine „arrogante, deutschfeindliche, beleidigende Einstellung“ vor, die in ihrem Brief zum Ausdruck käme. Um zu dieser Feststellung zu gelangen, wurden aufwändige Ermittlungen im Freundeskreis der Musiklehrerin sowohl in Rothenburg wie auch andernorts durchgeführt. Bei der Vernehmung der Beschuldigten durch die Schutzpolizei in Rothenburg am 2. September 1941 gab Sadie Walker an, dass sie kurz vor dem von ihr geschriebenen Brief einen von ihrer jüdischen Freundin Grete Königsfeld aus Berlin erhalten habe. Darin habe ihr die Freundin geschrieben, dass 70 ihrer Freunde Selbstmord begangen hätten. „Dies tat mir sehr leid, weshalb ich mich in der Weise, wie geschehen, in meinem Brief äußerte“, gab sie zu Protokoll. Im diesem mutigen Bekennerbrief schrieb sie aus Rothenburg an Bertha U. McKee in Washington u. a.:

„Man wird ganz krank davon, in dem Irrenhaus zu leben, zu dem die Politiker der Welt dieselbe gemacht haben. Gott sei Dank muss ich niemals Radio hören oder Zeitung lesen. Es ist leichter, seine geistige Gesundheit zu erhalten, wenn man unter Blumen, Vögeln, Hunden und Katzen lebt, denen es keine Freude macht, Babys, liebe kleine Kinder und wehrlose Männer und Frauen von einem sicheren Platz aus zu ermorden und zu ertränken. Das Heldentum ist solcher Opfer nicht wert.
Der Briefträger brachte mir soeben einen Brief von einer jüdischen Freundin, die so gut zu mir war, als ich das letzte Mal in Berlin war. Arme Seele! Sie erzählte mir, dass 70 ihrer Freunde und Bekannten Selbstmord begangen haben. Das Grauen muss einmal ein Ende haben. Bitte sei so lieb und sage mir, ob es F. K. (gemeint ist der österreichische jüdische Violinist und Komponist Fritz Kreisler), der in die USA entkommen konnte und in1961 in New York starb) gut geht. Auf einem Weg, der Sklaven verboten ist (Tod oder Gefängnis), sind schlechte Nachrichten über ihn zu mir durchgesickert. Nichts macht mich so wütend, als wenn die Einlagen, die Du mitschicktest gestohlen werden. Die Ausschnitte über H. (gemeint Rudolf Hess über seinen Englandflug) waren entnommen worden. Man muss sich an den Gedanken gewöhnen, dass alle Regierungen Mörder, Lügner und Diebe sind. Was sonst? Aber es wird überall eine Änderung haben.
Die hiesigen Zeitungen waren genauso entsetzt und angewidert über das abessinische Verbrechen wie überall sonst. Ich bewundere England am meisten, weil es den Italienern Sanktionen verhängt. Wenn man mit Gangstern befreundet ist, so muss man wissen, was man zu erwarten hat und ich fürchte, dass noch viel zu erwarten ist.
Helen van Houten denkt, dass es nicht klug ist, viel in Briefen zu sagen. Erst die Sicherheit – offensichtlich. Genauso sind alle Sklaven und dies hat viel dazu beigetragen, das Gangstertum überhaupt möglich zu machen. Ich habe in jedem Brief immer genau das gesagt, was ich sagen wollte.“

Gericht analysierte den Brief udn die Wortwahl

Das Sondergericht begründete sein sechsseitiges Urteil auf diesen Brief und die Einlassungen der Angeklagten. Sadie Walker beteuerte vor der Gestapo, dass sie Deutschland liebe und den Führer verehre. Den Brief habe sie in einem Erregungszustand geschrieben, als Kölner, die damals in Rothenburg untergebracht waren, von den schweren Bombardierungen berichteten. In der Urteilsbegründung steht: „In diesem Erregungszustand seien ihr die hässlichen Worte entschlüpft, die nicht so allgemein gemeint sind, wie sie klingen, und sich nicht auf Deutschland bezögen.“ Das Gericht begab sich auf Sinnsuche ihres Briefes und glaubte, den Schlüssel dazu in der Stelle gefunden zu haben, wo Sadie Walker von dem für „Sklaven verbotenen Weg“ schrieb.

„Die Angeklagte hat hier das in Deutschland geltende Verbot des Abhörens ausländischer Sender im Auge. Wenn sie in diesem Zusammenhang das deutsche Volk als Sklaven bezeichnet, so übt sie damit in einer Weise Kritik, die ihre Haltung gegenüber Deutschland und seiner Regierung kennzeichnet. Daraus ergibt sich, dass sie bewusst Deutschland in ihren allgemein gehaltenen Aussagen nicht ausgenommen hat. Demnach wirft sie auch den deutschen Politikern vor, dazu beigetragen zu haben, die Welt zu einem Irrenhaus zu machen… Die Ausführungen über den Selbstmord von 70 Juden erwecken den Anschein, als ob Deutschlands Notwehrmaßnahmen gegen das Judentum ungerechtfertigt seien und deshalb zu Selbstmorden führten…
Die Kritik der Angeklagten an Deutschlands Kriegsführung, an dem wohlbegründeten Verbot des Abhörens ausländischer Sender, an seiner Außenpolitik, an seiner Haltung in der Jugendfrage, der Vorwurf amtlichen Postraubs, die Bezeichnung der deutschen Regierung als Mörder, Diebe und Lügner sowie die Behauptung, die deutsche Politik habe Anteil daran, die Welt zu einem Irrenhaus zu machen, stellen abfällige Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates und der NSDAP sowie über deren Anordnungen dar. Mangels jeglichen rechtfertigenden Anlasses sowie nach Inhalt und Ton sind die gehässig, hetzerisch und böswillig sowie der Ausdruck einer niedrigen Gesinnung. Diese Auslassungen sind durchaus geeignet, das deutsche Volk in seinem Glauben an seine Führung irre zu machen und sein Vertrauen zu dieser zu erschüttern…
Die Angeklagte stand zwar als Ausländerin zum deutschen Reich in keinem Treueverhältnis. Sie genoss aber hier Gastfreundschaft und wurde sogar, da sie in wirtschaftlich bedrängten Verhältnisse lebte, aus öffentlichen Mitteln unterstützt. Einfachstes Gebot des Anstandes und der Dankbarkeit wäre daher gewesen, sich wenigstens loyal gegenüber Deutschland zu verhalten Stattdessen hat sie mit echt amerikanischer Anmaßung das deutsche Volk und (die) Führung beschimpft. Ins Gewicht fällt auch die Gefährlichkeit ihres Tuns, das der Feindpropaganda Angriffspunkte gegen das Reich hätte geben können. Dagegen konnte strafmildernd Berücksichtigung finden, dass es sich bei der Angeklagten um eine abwegige Persönlichkeit handelt. Sie lebt zurückgezogen, hört weder Rundfunk noch liest sie Zeitung; sie ist daher weltfremd. Dazu treten eine gewisse Nervosität und Ängstlichkeit, so dass sie als verschroben zu kennzeichnen ist.“

Über das weitere Schicksal ist nichts bekannt

Das Gericht erachtete daher eine Gefängnisstrafe von sieben Monaten für „schuldentsprechend“ und rechnete zwei Wochen Untersuchungshaft auf die Strafe an. Sadie Walker hatte in dem Verfahren, das von einem ansonsten als brutal geltenden Richter geleitet wurde, großes Glück, dass ihre persönliche Umstände, die bei deutschen Angeklagten vermutlich strafverschärfend bewertet worden wären, ihr als Ausländerin strafmildernd angerechnet wurden. Über ihr weiteres Schicksal ist nichts bekannt.

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Quelle: Staatsarchiv Nürnberg, Bestand: Anklagebehörde bei dem Sondergericht Nürnberg, Nr. 1376
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