Vorbemerkung: Mitte Juli machte uns Matthias Probst, ein Leser von „Rothenburg unterm Hakenkreuz“, auf ein Buch aufmerksam, das 2009 in den USA erschienen ist und über die journalistischen Einsätze des Kriegsreporters der US-Soldatenzeitung „Stars & Strips“, William M. Dwyer, handelt. Einer dieser besonderen Einsätze, für die er mit dem „Bronze Star“ ausgezeichnet wurde, fand in Rothenburg ob der Tauber statt. Er war einer der sechs US-Parlamentäre, die am 16. April 1945 den Rothenburger Kampfkommandanten und dessen Offiziere erpresserisch unter Druck setzten, die Stadt kampflos zu übergeben, ansonsten nach einer halben Stunde Rothenburg mit Artillerie beschossen werde und über der Stadt Fliegerbomben abgeworfen würden. Der Kommandant konnte aus Zeitgründen keiner formalen Übergabe zustimmen, willigte aber einer formlosen Übergabe durch Abzug der Truppen zu. Dwyer beschreibt die Situationen seines Erlebens auf dieser Mission minutiös. Von den Zivilisten in Rothenburg wurden die sechs US-Soldaten, als sie mit der weißen Fahne und mit verbundenen Augen in die Stadt gebracht wurden, bespuckt und als „Schweinehunde“ beschimpft. Dazu der US-Korrespondent in seiner Schilderung:
„Hey“, sagte Lichey, „hören Sie das? Sie nennen uns Schweinhunde!“ Ich erwiderte: „Und wir wollen ihre gottverdammte Stadt retten.”
Immer wieder wurde in den letzten Jahren in Rothenburg thematisiert, wer das Verdienst an der „friedlichen Übergabe“ der Stadt habe, die sich 2015 zum 70. Male jährte. Karl Thürauf vom Verein Alt-Rothenburg meinte in einem Vortrag aufgrund seines persönlichen Erlebens, dass das Abrücken von Wehrmacht und SS des Stadtamtmanns Hans Wirsching Verdienst war. Entsprechend titelte er seinen Artikel in der vom Verein Alt-Rothenburg herausgegebenen FA-Beilage „Die Linde“ 95/2013: „Stadtamtmann Hans Wirsching (1877–1956). Der Retter von Rothenburg 1945“. Folgedessen schrieb der „Fränkische Anzeiger“ (FA) am 8. Februar 2013: „Den Abzug der deutschen Truppen aus Rothenburg und der unmittelbaren Umgebung hat er höchstwahrscheinlich in eigener Verantwortung und unter Lebensgefahr bewerkstelligt…“ Nach der hier vorliegenden Schilderung Dwyers ist die Version, Hans Wirsching sei der Retter der Stadt, nicht mehr haltbar.
Nach dem Augenzeugenbericht des US-Korrespondeten Dwyer, der wirklich dabei war, sind diese Darstellungen widerlegt. Dwyer war als Kriegsreporter auch in Belgien und Luxemburg eingesetzt, oft zusammen mit dem „Collier“-Korrespondenten Ernest Hemingway. Auch bei der Befreiung Dachaus war er dabei. Nach dem Krieg war er als Redakteur und Kolumnist für die „Times of Trenton“ tätig und schrieb Bücher. Er starb 2005 in Lawrenceville (New Jersey). Seine Witwe Marge Dwyer gab dann das Buch ihres Mannes heraus.
Die folgende Rothenburg-Schilderung wurde von Wolf Stegemann aus dem Englischen frei nacherzählt. Frei nacherzählt bedeutet in diesem Fall: Etliche langatmige Passagen und vor allem Reden und Gegenreden sind auf die Kernaussagen gekürzt, Unwesentliche ganz weggelassen, im Englischen für Deutsche nicht gebräuchliche Begriffe verständlich gemacht und Satzstellungen verändert worden. Das alles ohne den Sprach- und Lesefluss zu hemmen oder die Sachaussagen zu verändern. – Leider sind die in diesem Bericht beschriebenen Orte, Straßen und Bauernhäuser namentlich nicht benannt.
William M. Dwyers Schilderung: In heikler Mission
Es war am 16. April 1945, nachmittags um 3.15 Uhr, als ich, William Dwyer aus Trenton, New Jersey, Soldat und Kriegsreporter der amerikanischen Soldaten-Zeitung „Stars & Stripes“ beim Kommando des Ersten Bataillons, 12th Regiment, 4th Infanterie-Division ankam, das vor Rothenburg ob der Tauber lag. Der Bataillonskommandeur selbst, Major Frank Burk, den ich von früheren Besuchen kannte, begrüßte mich in ausgelassener Stimmung. „Nun“, sagte er, „diesmal haben wir wirklich eine Geschichte für Sie. Wir schicken Waffenstillstands-Parlamentäre nach Rothenburg. Wir brauchen noch einen Freiwilligen.“ Ich dachte, es wäre ein Scherz. Mit einem Anflug von Aufregung merkte ich aber, dass es ihm ernst war, mich zu einem Mitglied einer „weißen Flagge-Patrouille nach Rothenburg“ zu schicken. Wow! Und nun, an einem sonnigen Nachmittag im April 1945 war ich im Begriff, als Parlamentär mit einer Patrouille in die mittelalterlichen Stadtmauern von Rothenburg zu gelangen, der Stadt, die etwa 200 Meter über dem Tal der Tauber liegt und in der, wie ich später erfahren habe, 13.000 Menschen wohnen.
Es ist eine Schande, jetzt noch die mittelalterliche Stadt zu beschießen
Ich war begeistert, und überhaupt nicht über die Möglichkeit eines gefährlichen Scheiterns der Mission besorgt. Endlich. Ich, ein Etappen-Bastard, war im Begriff, bei dieser Aktion dabei zu sein. Ich verließ den Kommandostand des Bataillons, um dies Sergeant John Hufford mitzuteilen, der in unserem PRO Jeep wartete. Der am D-Day in der Normandie verwundete Soldat war als Jeepfahrer für Korrespondenten eingesetzt. Er sagte, er würde warten, bis ich von der Patrouille zurück sei. Er wünschte mir Glück. Unter den Rufen „Viel Glück, Jungs“ machten wir uns genau um 15.30 Uhr auf den Weg nach Rothenburg, das etwa zwei Meilen hinter den Frontlinien des Feindes lag, um über die Kapitulation der Stadt zu verhandeln. Es war eine Mission von genau drei Stunden. Wenn wir nicht wieder um 18.30 Uhr zurück sein sollten, würde die Stadt mit Luft- und Artilleriefeuer beschossen werden. Jahre später sollte ich erfahren, dass unsere Mission aus einem Last-Minute-Gespräch zwischen US-Assistant Secretary of War, John J. McCloy, und General Jacob Devers, Kommandeur der 6th US-Armee, resultierte. McCloy hatte Devers Gefechtsstand besucht und von meinem Brief berichtet, aus dem er entnahm, dass Devers den Plan hatte, beim bevorstehenden Angriff auf die Stadt Rothenburg die Artillerie einzusetzen. Ich sagte ihm, es sei eine Schande, in dieser späten Phase des Krieges, die historischen Schönheiten der Stadt zu zerstören. Devers stimmte sofort zu, Parlamentäre zur Übergabe der Stadt zu schicken.
Zuerst bestand unsere Patrouille aus neun Personen, die in einen Jeep gestopft wurden. Zwei Jungs aus der 4th Division. Ingenieure, lagen bäuchlings auf der Motorhaube und kontrollierten abwechselnd mit einem Minensuchgerät die Straße vor uns. Zwei Offiziere saßen neben dem Fahrer, vier Soldaten der ersten Klasse auf dem Rücksitz. Der Kerl neben mir saß vor dem Reserverad und hielt eine lange Stange, an der eine riesige weiße Fahne flatterte, etwa so groß wie ein halbes Bettlaken. Der Jeep kroch entlang der Schotterstraße etwa einen Kilometer weit, und musste vor der Kante eines Loches halten, das fast so breit war wie die Straße. Wir stiegen aus und gingen hinter dem Ingenieur mit dem Minensuchgerät, der den restlichen Weg zum Loch kontrollierte. Es war ein flaches Loch. Der Jeep konnte drüber fahren. Auf der anderen Seite stiegen wir wieder ein. Als die Straße eine Kurve machte, rief jemand: „Wer zum Teufel ist das vor uns?“ „Es ist die Charlie-Company“, war die Antwort.
Hermann Lichey aus Kalifornien sprach fließend Deutsch
Wir passierten diese US-Stellung. „Yo, wo zum Teufel geht ihr hin?“ rief einer von den Soldaten in der Stellung. „Nach Rothenburg, damit sie sich ergeben!“ – „Na ja, viel Glück!“ Wir hatten einen Dolmetscher dabei: Herman Lichey, ein großer Mann aus Kalifornien, der in Deutschland geboren war und fließend Deutsch sprach. Er war unser Dolmetscher für die Übergabe der Stadt. Kurze Zeit später behinderte ein weitaus tieferes Straßenloch unsere Weiterfahrt. Wir stiegen in das Loch und an der anderen Seite wieder heraus. Der Oberleutnant sagte uns, dass wir jetzt zu Fuß weitergehen müssten. Wir, das waren Oberleutnant Noble V. Borders aus Louisville (Kentucky), Oberleutnant Edmund H. Austgen aus Hammond (Indiana) und vier Soldaten: Herman Lichey aus Glendale (Kalifornien), Robert S. Grimm aus Tower City (Pennsylvania), Peter Kick aus Lansing (Illinois) und ich, William M. Dwyer aus Trenton (New Jersey).
Ob sie die weiße Fahne überhaupt sehen? Werden sie schießen?
Keck trug ein schweres Funkgerät auf dem Rücken. Oberleutnant Borders berichtete dem Bataillon über den jeweiligen Stand der Mission. Lichey lief in der Mitte der Straße, wir anderen auf beiden Seiten neben ihm. „Alles, was wir jetzt brauchen, sind eine Pfeife und eine Trommel und wir sind die Spirit of Seventy-six“, sagte Lichey. Er hielt die weiße Parlamentärs-Fahne hoch und genoss sichtlich seine Rolle. Plötzlich sagte jemand von uns: „Hey, habt ihr das gehört?“ Ja, wir hörten Gewehrfeuer, nicht weit von uns entfernt! Das Feuergefecht schien mit jedem Schritt lauter zu werden. Hmmm, würden die Deutschen in der Lage sein, die Fahne überhaupt zu sehen? Und würden sie weiter schießen, wenn sie sie sähen?
Die Straße machte eine Drehung nach links. Dann konnten wir einige unserer Jungs in 50 Metern Entfernung sehen. „Das ist die Baker-Company“, sagte jemand. Geradeaus auf einer Anhöhe gab es eine deutsche Stellung, aus der gefeuert wurde. Als die Schützen unserer Baker-Company unsere weiße Fahne sahen, stellten sie das Feuer ein. Einer der Schützen, der an einem Trümmerhaufen ein paar Meter von der Straße weg am Boden lag, rief uns zu: „Hey”, was zum Teufel macht ihr hier?“ – „Wir möchten nach Rothenburg“, antwortete unser Oberleutnant Borders.
„Ja“, sagte Leutnant Austgen, „hoffentlich nehmen die Krauts jetzt nicht unsere Bäuche unter Beschuss. Ich weiß nichts über diese gottverdammten Krauts.“
„Vielleicht ist die weiße Fahne durch die Büsche verdeckt!“ Nachdem unsere das Feuer engestellt hatten, schossen auch die Deutschen nicht mehr.
Was zum Teufel ist das für ein Ort, dieses Rothenburg?
Das Bauernhaus reichte bündig bis an den Rand der Straße. Wir dachten es wäre voller Krauts. Doch es wurde nicht geschossen. Wir stellten dann fest, dass keine Deutschen im Haus waren. Aus den Augenwinkeln sah ich uns gegenüber einen alten Bauern bei der Arbeit mit der Hacke! Genau in der Mitte des Niemandslandes. Er machte eine Pause, sah kurz zu uns her, rückte seinen Strohhut zurecht und behackte wieder den Boden. Er winkte nicht, und wir auch nicht. Ein kurzes Stück weiter zur Linken hockte eine einsame Gestalt hinter ausgedehntem Buschwerk. Wir dachten zuerst, es wäre ein deutscher Artillerie-Beobachter. Hinter uns hörten wir ein Feuergefecht. Wir gingen weiter. Leutnant Borders wandte sich an Lichey: „Wissen Sie, was sie sagen sollen, wenn wir auf den Feind stoßen?“ Im ernsten Ton antwortete Lichey:
„Ja, ja, wir sind Vertreter des Kommandeurs und bringen Ihnen sein Angebot, um der Stadt Rothenburg Beschuss und Bombardierung zu ersparen, wenn Sie zustimmen, es nicht zu verteidigen. Wir haben drei Stunden gegeben, um diese Nachricht zu erhalten. Wenn wir nicht bis 18 Uhr zu unseren Linien zurückgekehrt sind, wird die Stadt bombardiert und beschossen werden.“
„Das ist es. Wir wollen die Stadt ohne Kampf einnehmen.“
Eine Weile sprach niemand. Wir hörten nur unsere GI-Stiefel auf der Straße – klump, klump, klump, klump … Dann „Was zum Teufel ist das für ein Ort, dieses Rothenburg?“ „Es geht zurück auf elfhundert Jahre, und es hat eine Mauer um den ganzen Ort. Viele Kunst und … „ er unterbrach und sagt: „Hey! Siehst du, was ich sehe?“ – „Ja.“
„Berühren Sie nicht das Funkgerät. Sie könnten denken, es ist eine Waffe. Gehen Sie einfach zu Fuß natürlich weiter, verlangsamen Sie nicht ihren Schritt.“
Auch die gefürchtete SS war unter den Soldaten
Nicht weit vor uns, auf der rechten Seite, gab es ein großes, gelblich angestrichenes Bauernhaus mit einer weiß getünchten Steinmauer. Es war doppelt so groß wie das Haus, das wir zuletzt passiert hatten. Dieses Mal gab es Anzeichen, dass es besetzt war. Zuerst erschien ein Helm über der Mauer. Dann zwei weitere. Uh, oh! Und dann sahen wir Waffen.
Wir waren etwa vierzig Meter davon entfernt, als deutsche Soldaten hinter der Mauer hervorkamen und auf die Straße traten. Langsam kamen sie auf uns zu. Zwei von ihnen hatten Gewehre, der dritte eine Pistole, die er in der Hand hielt und sie nervös hin und her bewegte. Wir waren ja unbewaffnet, weil wir die weiße Fahne trugen. Sie gingen auf uns zu und wir auf sie. Wir wussten nicht, was wir als nächstes tun sollten.
„Halt!“ rief der mit der Pistole. Wir hielten nur ein paar Meter vor ihnen. Die Pistole des Deutschen machte uns so nervös, wie er selbst war. Wir sahen einander an. Was kommt als nächstes? Lichey hielt die weiße Fahne, trat vor und begann, unsere Mission zu erklären. Inzwischen kamen sechs oder sieben weitere Deutsche hinter der Mauer hervor. Sie bildeten einen Ring um uns herum. Drei unter ihnen hatten an ihren Uniformkragen SS-Insignien, die Marke von Heinrich Himmlers schikanierenden Jungs, der gefürchteten Schutzstaffel. Wir sechs wurden in den Hof des Bauernhauses geführt. Es war eine zementierte Fläche von etwa 100 mal 100 Metern. Eine Mauer umgab den gesamten Hof. Während wir dastanden, kam uns die Zeit sehr lang vor. Ich zählte etwa vierzig Deutsche, darunter siebzehn von der SS. Die meisten der Deutschen starrten uns an.
„Sieh dir nur die Bastarde an“, flüsterte mein Nebenmann. „Vorsicht, sie könnten Englisch verstehen!“ Der mit der Pistole holte einen Offizier, einen Leutnant, aus dem Haus, der mürrisch war und uns anschrie. „Was sagt er, Lichey?“
„Er will wissen, warum wir ein zweites Mal in seinem Leben sein Land militärisch angreifen.“ – „Nun“, ergriff Oberleutnant Borders das Wort, „sag’ ihm, wir sind nicht hier, um zu diskutieren, sondern wollen einen Offizier vom Kommando in Rothenburg sprechen!“ Lichey erklärt ihm unsere Mission. Dann ging der deutsche Leutnant schnell wieder ins Haus. Lichey sagte uns, dass er mit seinem Hauptquartier sprechen müsse.
Alliiertes Luftbild vom 10. April 1945; nach der Bombardierung der Stadt
Zwei Deutsche bewachten uns. Sie legten unser Funkgerät zur Seite. Dann durchsuchten sie uns nach Waffen. Bei mir kam nur ein Taschenmesser, hergestellt in Deutschland, zum Vorschein. Mit Erlaubnis der Wachen durften wir uns im Schatten einer Hütte aufhalten. Wir nahmen unsere Helme vom Kopf und setzen uns auf sie. Einige der deutschen Soldaten kamen zu uns und stellten Fragen, manchmal mit den Händen und Füßen gestikulierend. Eine der ersten Fragen war über Präsident Roosevelt, der ein paar Tage zuvor gestorben war. Roosevelt gut? Ja, haben wir erzählt, er war gut. Welcher Präsident jetzt? Truman. Gut? Ja, Truman gut.
Da kam der deutsche mürrische Leutnant aus dem Haus und sagte, dass er unseren Transport nach Rothenburg durchführen müsse. Nachdem er wieder im Haus war, unterhielten wir uns weiter mit den umstehenden Deutschen. Wir erfuhren, dass sie in den letzten drei Tagen mehr als 200 Kilometern zurückgelegt hätten, ihr Essen sei so schlecht gewesen, dass es nicht einmal für Schweine gut gewesen sei. Aber sie hatten Schnaps und Bier. Einer der Deutschen, der Englisch sprach, sagte: „Ich hoffe, dass dieser verdammte Krieg bald zu Ende ist. Ich will nach Hause.“ In diesem Moment kamen zwei SS-Männer, die in der Nähe gestanden hatten, mit vorgehaltenem Gewehr auf die Wehrmachtssoldaten zu. Einer der SS-Männer sagte: „Der Krieg wird beendet, wenn wir ihn gewonnen haben.“ Dann befahl er den Soldaten, sich zu entfernen. „Weg, weg!“ riefen sie. Die Soldaten gehorchten schnell.
Was zum Teufel, hatten sie vor?
Ein Feldwebel verband uns die Augen. Niemand sprach mehr ein Wort. Unsere Namen wurden genannt, und wir antworteten. Was kommt als nächstes? Würde ein Erschießungskommando zusammengestellt? Einer der Deutschen half mir mein Gleichgewicht zu halten. Was, zum Teufel, hatten sie vor? Ich wurde in ein Fahrzeug geführt. Wo waren die anderen? Ich saß auf dem Rücksitz. Wenn ich meinen Kopf in den Nacken legte, konnte ich unter der Augenbinde einen Spalt hindurchgucken. Auf dem Rücksitz saßen drei von uns und vorne die anderen drei. Es war ein offenes Fahrzeug. Neben dem Fahrer stand ein bewaffneter Wachmann auf dem Trittbrett. Es war eine lange Fahrt mit viel Stoppen, Starten und Richtungsänderungen! Bei der Einfahrt in die Stadt Rothenburg konnte ich durch den Spalt meiner Augenbinde Menschen an Kreuzungen stehen sehen. Einige von ihnen riefen und drohten mit den Fäusten. Auch wurden wir bespuckt. Spucke traf mich am Kinn.
„Hey“, sagte Lichey, „hören sie das? Sie nennen uns Schweinhunde!“ Ich erwiderte: „Und wir wollen ihre gottverdammte Stadt retten.“
Keine Zeit für eine formelle Übergabe der Stadt
Die Zeit wurde knapp. Man half uns beim Aussteigen und wir wurden einen steilen Weg entlang geführt und dann in den dritten Stock eines Gebäudes. In einem großen sonnendurchfluteten Raum durften wir unsere Augenbinden ablegen. Hinter einem Schreibtisch saß wohl der Kampfkommandant, umgeben von einem Dutzend oder mehr Offizieren und Unteroffizieren. Oberleutnant Borders blickte auf seine Armbanduhr und forderte Lichey auf: „Teil’ ihm mit, was wir wollen, und sag ihm, dass die Zeit in einer halben Stunde abläuft. Wenn wir dann nicht zurück sind, wird die Stadt bombardiert. Und teil’ ihm auch mit, dass ich unser Funkgerät brauche, um unserm Bataillon Mitteilung zu machen.“ Der Offizier hörte aufmerksam zu, der dann mit seinen Offizieren sprach. Danach sagte er, was Lichey übersetzte: „Es ist okay. Er will die Stadt aufgeben und sich zurückziehen. Aber er ist nicht sicher, dass er es auf eigene Faust tun kann. Er braucht ein Okay von oben, und das wird Zeit brauchen.“
Die Zeit drängt – Keine Verbindung mit dem US-Bataillon
Mit Blick auf seine Armbanduhr erwiderte unser Oberleutnant, dass nur noch eine halbe Stunde Zeit zur Verfügung stehe. Für eine Verlängerung der Zeit brauche er das Funkgerät. Er bekam es und Borders funkte unser Cup-Bataillon an. Alle Augen im Zimmer waren auf ihn gerichtet. Er bekam keine Verbindung. „Können Sie mich hören? Oder.“ Keine Antwort. Er versuchte und versuchte es immer wieder. Der deutsche Kommandant meinte, er benötige vier Stunden, um die Antwort seines Vorgesetzten zu bekommen. Vier Stunden? Leutnant Borders sagte: „Das wäre zehn Uhr heute Abend. Zu spät. So lange können wir nicht warten. Wir müssen sofort zurück oder wir werden alle unter schweres Feuer genommen.“ Daraufhin sagte der Offizier, dass es keine Notwendigkeit für eine formelle Kapitulation gebe. Morgen früh könne die Übergabe erfolgen. Borders war einverstanden und sagte, dass wir jetzt schnell zurück müssten, bevor es zu spät sei. Wir tauschten unsere Helme mit den Deutschen und salutierten. Der Hauptmann grüßte uns in amerikanischem Stil. Einige hoben den Arm, stießen die Hacken krachend zusammen und riefen „Heil Hitler!“ Genau wie im Film, dachte ich. Uns wurden die Augen wieder verbunden.
Eine Frau weinte und wischte sich die Tränen weg
Innerhalb weniger Minuten saßen wir sechs wieder im Fahrzeug, das uns gebracht hatte. Obwohl die Augen verbunden waren, bediente Borders immer wieder das Funkgerät. Vergebens. Doch bevor wir aus dem deutschen Fahrzeug aussteigen konnte, erreichte er das Bataillon uns sagte zu uns: „Wir müssen nicht mehr schwitzen, die Beschießung der Stadt wird aufgehalten!“ Wir atmeten tief durch. Der deutsche Fahrer raste mit dieser Nachricht schnell zurück nach Rothenburg. Nach fünf Minuten erreichten wir das Bauernhaus, in dem wir beim Hinweg die deutschen Soldaten und die SS-Männer antrafen. Sie waren verschwunden. Ein paar ältere Männer und Frauen standen vor der weißen Wand, winkten und lächelten schüchtern. Eine Frau weinte und wischte sich die Tränen weg.
Endlich wieder in Sicherheit
Wir liefen weiter. Da erhielt Leutnant Borders die Nachricht, dass das Bataillon uns einen Jeep schickt. Wir waren immer noch wegen möglicher Heckenschützen vorsichtig, aber nach dem Passieren einer Kurve entdeckten wir einen GI, der mit anderen unserer Jungs neben der Straße feuerbereit am Boden lag. Wir waren endlich in Sicherheit.
Dann sahen wir den Jeep. Ein Leutnant lief auf uns zu. In der Hand hielt er eine Flasche Scotch. „Gut gemacht“, sagte er. „Wir schlagen euch für den Silver Star vor!“ Offiziere und Mannschaften standen um uns herum, einige von ihnen hatten in der Normandie gekämpft und schlugen uns anerkennend auf die Schulter: „Gut gemacht!“ Und immer wieder „Gut gemacht!“ Wir haben den Silver Star nie bekommen. Doch die Blicke der Soldaten waren für uns so gut wie die Ehrenmedaille.
Gegen sechs Uhr morgens rückte das Bataillon in Rothenburg ein
Gegen sechs Uhr am nächsten Morgen, es war der 17. April, rückte das 1st Bataillon des 12th Regiments und 4th Infanterie-Division Richtung Rothenburg ab. Die Artillerie-Unterstützung wurde zurückgenommen. In Rothenburg fanden unsere Soldaten etwa fünfzig verwundete Deutsche vor. Der Marktplatz lag verlassen. „Da wir auf der der einen Seite in die Stadt zogen,“ notierte Oberleutnant Borders in sein Tagebuch, „bewegten sich die Krauts auf der anderen Seite aus der Stadt hinaus und in den Wald hinein“ [wohl gemeint die Frankenhöhe]. Unser Bataillon wurde aus der Stadt selbst nicht beschossen, als wir einzogen, aber es gab Heckenschützen rund um Rothenburg.“ –
Es war eine sehr interessante und anstrengende Erfahrung und für mich, dem Etappen-Soldaten, der für „Stars & Stripes“ berichtete, eine Ehre, dass ich an dieser Mission teilnehmen durfte.
______________________________________________________________
Hallo, sehr geehrter Herr Stegemann, aus welcher Richtung waren die Amerikaner im April 1945 auf Rothenburg o. d. T. vorgerückt? Eventuell entlang der B25 von Uffenheim, also aus nord- u. nordöstlicher Richtung kommend? Hier ein Auszug aus der ersten Nachkriegsausgabe der Topogr. Karte 1:25.000 des Bayer. Landesvermessungsamtes des Jahres 1957, noch weitgehend ohne moderne Nachkriegsbebauungen. Vielleicht lässt sich der Weg der US-Parlamentäre hier aufgrund der o. erwähnten Orts-/Wegbeschreibungen nochmals nachvollziehen!? Der Link auf die TK 25 von 1957 auf BayernAtlas: https://v.bayern.de/fbXqH
mit herzlichen Grüßen, W. Hesse