Entnazifizierung (22): Ferdinand Lieret – der Polizeichef stand dem NS-Regime kritisch gegenüber. Seine Polizei verweigerte die Beteiligung am Judenpogrom

Von Wolf Stegemann

Als 1937 der  Ordnungspolizeioffizier der Kreisregierung anordnete, dass der Leiter der Rothenburger „Schutzmannschaft“, Polizeikommissär Greiner, ersetzt werden müsse, da er dafür als „nicht mehr geeignet“ galt, suchte die Rothenburger Stadtverwaltung einen neuen Polizeichef. Den fand sie in der Person des Polizeihauptwachmeisters Ferdinand Lieret in Ansbach. Dieser erschien den Rothenburgern als geeignet, denn im Ratsprotokoll steht: „Die Erkundigungen, die über Lieret eingezogen worden sind, sind denkbar günstig.“ Nachdem die NSDAP-Kreisleitung ihre Genehmigung erteilt hatte, wurde Ferdinand Lieret 1937 Chef der Rothenburger Schutz- bzw. Ordnungspolizei, was er bis 1940 blieb. Danach war er wegen Differenzen mit der NSDAP-Kreisleitung als Polizeimeister aus dem Polizeidienst ausgeschieden und als Reg.-Obersekretär in die allgemeine Verwaltung des Landratsamts übergewechselt. Die Kreisleitung hatte ihm vorgeworfen, dass die Polizei (im Sinne des Nationalsozialismus) politisch nicht zuverlässig sei. Das stimmte und hatte auch seine Gründe, die in der Rechtsauffassung des Polizeichefs zu finden sind, die auch mit seinem Handeln übereinstimmte.

Ferdinand Lieret als Pensionär nach 1945

Ferdinand Lieret als Pensionär nach 1945

Von 1937 bis 1940 Polizeichef in Rothenburg

Ferdinand Lieret, 1892 in Nürnberg geboren, gehörte von 1919 bis 1937, als er nach Rothenburg kam, der Schutzpolizei in Ansbach an. Von 1930 bis zur Auflösung 1933 vertrat er im Bayerischen Polizeibeamtenverband, eine Standesorganisation, die Fachschaft Schutzpolizei. In der nationalsozialistischen Nachfolgeorganisation übernahm Lieret kein Amt. 1935 trat er auf Druck des Ansbacher Kreisleiters, der zugleich Bürgermeister und somit sein Vorgesetzter war, in die NSDAP ein. Ferdinand Lieret glaubte, wie er später im Entnazifizierungsverfahren aussagte, dass er sich der Aufforderung seines Chefs nicht entziehen konnte und leistete auch keinen Widerstand gegen die Aufnahme in die Partei. Dazu die Feststellung der Rothenburger Spruchkammer vom 27. März 1947 (Az. 7219/Ro/L):

„Er hat sich aber nach dem vorhandenen Beweismaterial nicht als überzeugter Nationalsozialist bewiesen und hat sich auch in keiner Weise politisch betätigt. Er hat Andersdenkende, insbesondere auch die ihm unterstellten Polizeibeamten politisch nicht zu beeinflussen versucht.“

In Rothenburg wohnte Lieret mit seiner Frau (1895–1961), die an multipler Sklerose litt, in der Johannitergasse. 1936 wurde Lieret, der durch die erfolgreich bestandene Prüfung befähigt war, die Kommissar-Laufbahn (später Meister) einzuschlagen, in der Beförderung übergangen. Daher bewarb er sich auf die ausgeschriebene Stelle in Rothenburg.  Entgegen der oben erwähnten „positiven“ Einschätzung der Rothenburger Stadtverwaltung von 1937, die zu seiner Anstellung als Polizeichef beitrug, stand Ferdinand Lieret den Machenschaften im Dritten Reich mitunter skeptisch und kritisch gegenüber, was in seinem Handeln auch zum Ausdruck kam. Er selbst schrieb am 2. August 1946 an die Spruchkammer Rothenburg: „In Rothenburg war mein Verhältnis zur Partei von Anfang an nicht gut, weil ich mich weigerte, die Polizei in die Bekämpfung der Juden aktiv einzuschalten.“ Als Georg Uebelhoer in einer Wirtschaft abfällig über das Dritte Reich sprach, wurde er denunziert und Lieret sollte ihn festnehmen. Stattdessen ließ er der Frau des Denunzierten eine Nachricht zukommen, so dass sich Georg Uebelhoer der Festnahme entziehen konnte.

Judenvertreibung: Er verweigerte sich dem Kreisleiters

Als am 22. Oktober 1938 die noch wenigen ansässigen Juden auf Anweisung von NSDAP-Kreisleiter Karl Steinacker aus Rothenburg vertrieben wurden, befahl er dem Polizeichef Lieret, alle Juden festnehmen zu lassen. Doch dieser weigerte sich. So drangen SA-Leute in Zivil und Hitlerjungs in die Wohnungen der jüdischen Familien ein und erledigten das, was der Kreisleiter der Polizei zugedacht hatte. Welche direkten Folgen das für Lieret hatte, darüber ist hier nichts bekannt. Sicher ist, dass die gegenseitige Ablehnung zwischen Kreisleiter und Polizeichef gestiegen sein dürfte, was schließlich 1940 zum Ausscheiden Ferdinand Lierets aus dem Polizeidienst führte. Bis dahin, aber auch noch im Landratsamt,  konnte er noch mäßigend und hilfreich wirken.
Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Rothenburg Josef Wimpfheimer, so Lieret in seinem erwähnten Schreiben  an die Spruchkammer, habe sich bei ihm für „die loyale Behandlung“ durch die Polizei bedankt.

Sich an keinen ungesetzlichen Maßnahmen beteiligt

Dass Lieret als Regierungsbeamter im Landratsamt von 1941 bis 1944 an die Außenstelle Ansbach des Sicherheitsdienstes (SD) Auskünfte über „Schwierigkeiten in der Bevölkerung und Stimmung“ gegeben hat, wurde ihm nach 1945 angelastet, weil man glaubte, er selbst sei Mitglied des SD gewesen. Das war Lieret nicht, was wieder zu seiner Entlastung beigetragen hat. Er beschrieb lediglich Schwierigkeiten bei der Nahrungsmittelversorgung, über fehlenden Treibstoff und Kraftfahrzeuge, über die ärztliche Versorgung. „Der Betroffene ist in Verbindung damit gegen niemanden vorgegangen, sondern hat im Gegenteil Gegner des Nazi-Regimes vor dem Zugriff der Gestapo und vor dem KZ bewahrt. Er hat auch seine ganze Tätigkeit als leitender Polizeibeamter in korrekter und vollständig unparteiischer Weise ausgeübt.“ Eventuell ist in der textlichen Darstellung der Spruchkammer seine Tätigkeit als SD-Informant, die er als Obersekretär im Landratsamt und die er als Polizeibeamter vor dieser Zeit ausübte, etwas durcheinander geraten. Wie auch immer, Ferdinand Lieret gehörte in Rothenburg zu den wenigen, die den Mut hatten, gegen die Partei zu handeln, wenn diese ungesetzliche Maßnahmen forderte. Lieret war ein korrekter ordnungsliebender Beamter von klaren Wertvorstellungen, die er aber nicht jedem mitteilte, die aber in seinem Verhalten deutlich wurden. Rudolf Dörrer schrieb über ihn 1950:

„Lieret hat bei der Ausübung seines Dienstes beim Landratsamt Rothenburg, Referat Kreispolizei, vielen Ausländern geholfen, hat Geld- statt Gefängnisstrafen ausgesprochen (gegenüber Russen, Polen usw.) und sie vor dem Zugriff der Gestapo bewahrt.“

Rund 200 Ausländer vor Verfolgung bewahrt

Ein weiterer Rothenburger, Hans Schubart, wurde wegen staatsabträglicher Äußerungen bei der Gestapo denunziert. Er sagte über den früheren Polizeichef 1946: „Lieret verdanke ich durch sein wohlwollendes Verhalten und geschickte Aufnahme des Protokolls keine weiteren Verfolgungen.“ Ferdinand Lieret selbst schrieb in seinem Berufungsantrag vom 11. April 1950 an die Hauptkammer München, Außenstelle Nürnberg, dass er „mindestens vier Deutsche und etwa 50 Ausländer vor der politischen Haft mit ihren, heute bekannten Folgen  bewahrte, ganz abgesehen von den Unannehmlichkeiten, die ich von der hiesigen Geistlichkeit und den Juden fernhielt.“
In den letzten Kriegsmonaten kam Ferdinand Lieret zum Volkssturm. Dort wurde er „Bataillonsführer-Gehilfe“ nicht wegen seiner Parteizugehörigkeit, wie ihm unterstellt wurde, sondern weil er im Ersten Weltkrieg mit der Bayer. Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet worden war.

Aus dem Internierungslager wieder entlassen

Ferdinand Lieret wurde am 3. Juli 1945 festgenommen und interniert. Aufgrund vieler Briefe, in denen sich Rothenburger, darunter der evangelische Pfarrer Jelden und der katholische Dekan Wolfgang Müller, sich für ihn einsetzten, wurde er am 22. Mai 1946 wieder entlassen. Er kam nach Rothenburg zurück und arbeitete in der Firma „Landmaschinen-Groß“ in der Spitalgasse sowie als Hilfsarbeiter und Schreiner. Die Rothenburger Spruchkammer reihte ihn bei der Entnazifizierung 1947 als „Mitläufer“ ein. Daraufhin stellte Ferdinand Lieret einen Antrag auf Wiederaufnahme, weil er in die Gruppe der „Entlasteten“ aufgenommen werden wollte. Das lehnte die Hauptkammer München am 3. Mai 1950 ab und erklärte: „Die Kammer kann in den erbrachten neuen Beweisen keinen Tatbestand eines aktiven Widerstandes erkennen.“ Dazu seien die Erklärungen zu allgemein gehalten. Einen weiteren Ablehnungsgrund sah die Kammer darin:

„Dass aus den Akten nicht ersichtlich ist, dass der Betroffene ob seines Verhaltens irgendeinmal gemaßregelt worden wäre oder dass tatsächlich eine Verfolgungsgefahr bei ihm jemals bestanden hatte, seine Tätigkeit für den SD lässt dies jedenfalls nicht vermuten.“

Ferdinand Lieret verbrachte seinen Lebensabend im Bürgerheim in Rothenburg. Er nahm sich am 16. August 1981 auf dem Gelände des Wildbades das Leben, am Geburtstag seiner Frau, die lange vor ihm verstorben war. Wahrscheinlich hatte die Verzweiflungstat persönliche Gründe.

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Wiederaufnahme des Verfahrens abgelehnt

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Quellen: Stadtarchiv Rotheburg ob der Tauber, Ratsprotokollbuch von 1937. – Staatsarchiv Nürnberg, Bestand Spruchkammer Rothenburg, L 57. – Zeitzeugenbericht.
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