Entnazifizierung (11): Am Fall Edwin Böhms sind die Probleme zu sehen, nach welchen Maßstäben die Spruchkammern ihre oft widersprüchlichen Urteile bildeten

NSDAP-Führer-Schule Krössinsee

NSDAP-Führer-Schule Krössinsee

Von Wolf Stegemann

Einer, der sich anfangs besonders verwerflich als Antisemit und Nationalsozialist schon 1933 hervorgetan hat, war gerade 18 Jahre alt. Der 1915 in Neusitz geborene Edwin Franz Böhm war damals bereits ein Jahr Kameradschaftsführer in der Hitlerjugend, in die Partei trat er erst 1937 ein, in die SA 1939, wo er den Rang eines Obertruppführers ohne Funktion hatte. Zudem war der spätere Kaufmann noch in zwei weiteren NS-Organisationen und war Träger des HJ-Ehrenabzeichens und von 1937 bis 1945 Ordensjunker, vorher von 1933 bis 1937 Angehöriger des Reichsarbeitsdienstes (RAD), zuletzt im Rang eines Obertruppführers. Vom September 1939  bis Kriegsende war er mit kurzen Unterbrechungen bei der Wehrmacht, zuletzt als Leutnant. Von Oktober 1945 bis November 1946 befand er sich im Internierungslager Hammelburg. In den Akten der Militärregierung Rothenburg wurde er als hauptamtlicher Politischer Leiter, Kreisstabsamtsleiter und Kreisredner geführt, was bei der Entnazifizierung den Öffentlichen Kläger veranlasste, Edwin Böhm in seiner Klageschrift als Hauptschuldigen nach Gruppe I zu bezeichnen.

Edwin Böhm war dabei. Als RAD-Mann ging er voraus und schlug die Trommel

Edwin Böhm war dabei; als RAD-Mann ging er voraus und schlug die Trommel

Als Trommler der grausamen Szenerie vorausgegangen

Davon rückte die Spruchkammer Rothenburg unter Vorsitz von Georg Schadt und den Beisitzers Ludwig Stumpf und Hermann Müller weit ab. Sie stuften ihn am 13. Mai 1948 in die Gruppe IV als „Mitläufer“ ein. – Mitgelaufen ist er auch am 6. August 1933, als er dabei war, als Rothenburger Nazis den jüdischen Lehrer Leopold Westheimer mit einem Hetzschild um den Hals, das ihn als Rassenschänder bezeichnete, barfuß mit blutig getretenen Füßen durch die Herrngasse zum Marktplatz führten, vorneweg ein Trommelschläger, hinterdrein und nebenher johlende Menschen in Uniform oder weißem HJ-Hemd und Lederhosen. Eine Fotografie zeigt diese entwürdigende Szene am Marktplatz. Dazu steht in der Spruchkammer-Akte (7628/Ro/B):

„Der Betroffene war ein persönlich überzeugte Anhänger der NS-Idee und schon als Jugendlicher für diese Ziele begeistert. Er hat bereits 1933 an einer judenfeindlichen Aktion teilgenommen, ist dort aber nicht persönlich aktiv geworden. Nach den Bekundungen glaubwürdiger Zeugen ist diese Angelegenheit dortmals von einem RAD-Führer selbständig gestartet worden, Der Betroffene wurde dabei als Trommler kommandiert und verwendet, eine weitere Belastung liegt in dieser Angelegenheit nicht vor.“

SA-Mitgliedschaft als Formsache bewertet

Eine Belastung sah die Spruchkammer auch nicht in den anderen Aktivitäten Edwin Böhms,  was verwundern mag, kennt man aber die Praxis der Entnazifizierung, dann auch wieder nicht. An so manchen Entnazifizierungssprüchen erkennt man das Scheitern des gut gemeinten und gut angefangenen Massen-Projekts „Entnazifizierung“. Die Verfahren entwickelten sich zur Farce. Die beeideten Zeugenaussagen waren oft erkennbar abgesprochen und verlogen, die dann als Grundlage der Beurteilung durch die Spruchkammer herangezogen wurden. Dass Edwin Böhm am Ende des Verfahrens schließlich als Mitläufer eingestuft wurde, hat verschiedene Bewertungsstränge, die zur Beurteilung führten: In der HJ ist er nicht gewalttätig aufgetreten und hat sich „in anständigem Rahmen gehalten“, die Verleihung des HJ-Ehrenzeichens war lediglich eine Belohnung für die frühe Mitgliedschaft, sein Verhalten im Reicharbeitsdienst war „kameradschaftlich und einwandfrei“, die Überweisung in die Partei erfolgte im Verband des RAD. Seine Mitgliedschaft in der SA bewertete die Spruchkammer als eine „rein formelle“. Seinen Dienstrang als Obertruppführer trug er ehrenhalber.

Edwin Böhm wollte ein Berufs-Nationalsozialist werden

1937 wurde der nunmehr 22-Jährige zu einem vierjährigen Lehrgang als Ordensschüler in die parteieigene Ordensburg Krössinsee (Pommern) zur politischen Ausbildung geschickt, die der Beginn des Krieges offiziell unterbrach, faktisch aber beendete. Nach dem Endsieg sollte er seine politische Ausbildung zum Berufs-Nationalsozialisten fortsetzen. Daher wurde er während des Krieges mehrmals zur praktischen Ausbildung an Parteidienststellen abkommandiert.

„Der Betroffene hat daher nur als Schüler und Praktikant an politischen Geschehen teilgenommen … und keine selbständige Handlungen vollbracht. Er ist vielmehr sehr aktiv für politische Sauberkeit und für das Recht auch von politisch Andersdenkenden eingetreten. Unter anderem hat er auch nach erheblichen Schwierigkeiten mit der Gauleitung die Abberufung eines  bei der Bevölkerung missliebigen Kreisleiters eingeleitet und sich durchgesetzt, obwohl er zu Amtshandlungen nicht befugt gewesen ist.“ –

Ausriss aus der Entnazifizierungsakte

Ausriss aus der Entnazifizierungsakte

Das steht im Widerspruch zu der Aussage wenige Zeilen zuvor. Er hat also doch am politischen Handeln teilgenommen und nicht nur als braver nationalsozialistischer Schüler und Praktikant die Schulbank gedrückt. Er war von der Partei vorgesehen, den Rang eines Politischen Leiters und Parteiredners schon während seiner Ordenschulzeit zu erhalten. Das unterblieb, da Edwin Böhm im Krieg schwer verwundet wurde. In der Gesamtbeurteilung kam die Spruchkammer zu dem Fazit:

„Über das Gesamtverhalten liegt nichts Nachteiliges vor. Der Betroffene war wohl persönlich ein überzeugter Anhänger der Partei, eine Übertragung seitens des Betroffenen auf Andere im Dienst bei der Partei hat nicht stattgefunden. Die einmalige Betätigung anlässlich der Aktion gegen den Juden 1933 als RAD-Angehöriger auf Befehl beweist nichts, da sein übriger Weg in der Partei von sauberer und anständiger Grundeinstellung und Gesinnung keine weiteren  solcher Taten aufweist.“

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