„Die jüdische Gemeinde Rothenburgs und das Erinnern nach 1945“ – Vortrag von Dr. Oliver Gußmann auf der Tagung der Ev. Akademie Tutzing in Rothenburg 2016

Tagung-1 Gußmann-Tutzing - Krieg und Frieden in Rothenburg_JoE 088 - pSehr geehrte Damen und Herren!
Als ich im Jahr 2000 als Touristenpfarrer nach Rothenburg ob der Tauber kam und nach der Jüdischen Vergangenheit fragte, fielen mir als Erstes sehr ähnlich lautende Stellungnahmen auf, die aber von unterschiedlichen Menschen formuliert worden sind. Offensichtlich hatte man in der Stadt Rothenburg in der Nachkriegszeit mit großem Eifer an einem Geschichtsbild gearbeitet, das, wie es in der Einladung zu dieser Tagung heißt, ein Mythos ist, den man dekonstruieren müsse. Diese besonders in Rothenburg vorherrschenden eigenen Deutungen erlaubten es, sich nicht weiter mit der eigenen jüdischen Geschichte auseinandersetzen zu müssen. Den genauen Hintergrund kannte ich damals noch nicht, doch meine ich, diese populären Deutungen heute vielleicht besser einordnen und verstehen zu können. Ich möchte Ihnen einige Beispiele für solche stehenden Redewendungen geben:

Beispiel 1: „Über die Jüdische Geschichte nach 1900 haben wir keine Quellen, weil die städtische Registratur bei der Bombardierung Rothenburgs im März 1945 abgebrannt ist.“

Dies wurde vor allem von historisch nicht uninformierten Seiten in Rothenburg geäußert, von Stadtführern und von namhaften Historikern im Verein Alt-Rothenburg, für die die Rothenburger Geschichte vor 1933 beendet schien. Die Bombardierung Rothenburgs am 31. März 1945 hat zwar auch historische Quellen zertört, aber sie hat ein Trauma in den Köpfen bewirkt. Das selbst erfahrene Leid von über 40 Toten in der Stadt hatte den Blick verstellt für das Leid, das man jüdischen Bürgern angetan hatte. Man hätte durchaus Geld dafür aufbringen können und einen Historiker mit der Aufarbeitung jüdischer Geschichte betrauen können, doch dafür war das Interesse wohl zu gering. Eher halbherzig als mutig ging man Mitte der 90er-Jahre daran, eine historisch nicht versierte Abiturientin in einer Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte zu betrauen. Das Projekt blieb stecken, weil diese Aufgabe zu monströs war und der versierten Arbeit eines Stadthistorikers bedurft hätte, doch es war nun eine zweite Geschichtsdeutung in Rothenburg geboren, die fortan die Runde machte und mit der man begründen konnte, sich nicht mit der jüdischen Geschichte zu beschäftigen. Sie lautete:

Beispiel 2: „Eine Studentin hat sich mal mit der jüdischen Geschichte befasst. Man hat ihr 40.000 D-Mark gegeben, aber nie ist etwas veröffentlicht worden.“

Nun hatte man erst einmal Ruhe vor weiteren Fragen und Ansprüchen, denn immerhin hatte man ja mit dem Investment einer großen Geldsumme guten Willen gezeigt. Und was bei dieser Äußerung ebenfalls typisch war, ist: Ich fragte nach jüdischer Geschichte und bekam eine Erzählung über den Nationalsozialismus in Rothenburg. Ergänzen möchte ich die Reihe der Beispiele durch ein drittes

Beispiel 3: „Wir haben dieses Haus hier zwei Mal bezahlen müssen“.

Diese stehende Redewendung kam und kommt oftmals von seiten jener, deren Vorfahren in den Jahren 1933 bis 1938 ein jüdisches Haus günstig erworben oder es – wie man sagt – „arisiert“ hatten. In den Resititutionsverfahren nach 1945 musste nämlich ein ähnlich hoher Preis nachgezahlt werden, wodurch bei vielen die Redensart entstand: Wir haben dieses Haus zwei mal bezahlen müssen. Bemerkenswert ist der feine Unterton der Entrüstung, man sei offensichtlich von den Juden und deren Nachkommen oder deren Rechtsanwälten in den Wiedergutmachungsverfahren ungerecht behandelt worden. All diesen Aussagen lohnt es sich, weiter nachzugehen, doch ich möchte Ihnen heute etwas von der jüdischen Geschichte im Spiegel ihrer Aufarbeitung oder Nicht-Aufarbeitung nach 1945 erzählen.

2. Kurze Charakteristik der Jüdischen Gemeinde in Rothenburg

Die Anfänge der Rothenburger jüdischen Gemeinde reichen zurück bis in das Jahr 1180, vielleicht auch schon früher. Das erste Siedlungsgebiet war 1180–ca. 1298 im Bereich des heutigen Kapellenplatzes. Einen starken jüdischen Bevölkerungszuwachs gab es 1246 bis 1286 als Rabbi Meir ben Baruch aus Worms sich hier ansiedelte. Während er hier war, kam es zu einer 40-jährigen Blütezeit der jüdischen Gelehrsamkeit in Rothenburg, die der in den Städten Speyer, Worms und Mainz in nichts nachstand. Rabbi Meir war Rechtsgelehrter (Tosafist) und Dichter von synagogaler Dichtung (Piyyutim). Und so gab man ihm bald den Ehrennamen Maharam, was bedeutet „unser Lehrer der Rabbi Meir“. Unter der hohen Steuerlast durch Rudolf von Habsburg wollte Rabbi Meir ins Heilige Land auswandern und geriet in der Lombardei in Gefangenschaft aus der er zeitlebens nicht mehr freikam. Er verbrachte sieben Jahre im Gefängnis in Wasserburg und in Ensisheim. Doch darf man davon ausgehen, dass er weiterhin Gelehrtenbriefe durch Boten in die damals bekannte jüdische Welt entsandte. Man darf Rabbi Meir mit Recht als den berühmtesten Rothenburger bezeichnen, der je gelebt hat. Rabbi Meir hat den Untergang seiner Gemeinde nicht mehr erlebt. Das so genannte Rintfleisch-Pogrom löschte 1298 ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Rothenburgs aus, etwa 500 Menschen wurden auf der Burg bestialisch ermordet. Das Geschehen ist sehr gut belegt durch einen Gedenkstein und durch das Nürnberger Memor-Buch, das die Namen der Umgekommenen aufzählt.

Auch 1336 und 1350 gab es zu Pestzeiten Judenpogrome auch in Rothenburg. Seit 1373 siedelte die Stadt im Bereich der heutigen Judengasse Juden neu in Rothenburg an. Man baute eine neue Synagoge ganz in der Nähe des jüdischen Begräbnisplatzes, der später „Judenkirchhof“ genannt wurde und der vor dem Mauerbau im Norden noch außerhalb der Stadtmauer lag. Diese zweite jüdische Gemeinde wurde schließlich 1520 durch die Verfolgungen des christlichen Hasspredigers und fanatischen Marienverehrers Johannes Täuschlein aus Rothenburg vertrieben.

350 Jahre lang gab es keine Juden mehr in Rothenburg, aber es sind verschiedene Ratsbeschlüsse bekannt, sie außerhalb der Stadt zu halten. 1870 siedelten sich nach der bayerischen Toleranzgesetzgebung wieder Juden in Rothenburg an. Es waren überwiegend junge aufstrebende Viehhändlerfamilien, die aus dem dörflichen Umfeld Rothenburgs kamen, beispielsweise aus Niederstetten. Es gab aber auch den Lederwarenhändler Westheimer, den Stoffhandel Heuman & Strauss. Sie brachten das Geld auf, ein Wohnhaus in der Herrngasse zum Betsaal mit Lehrerwohnung umzubauen, eine offenbar beheizbare Mikwe, sie stellten einen Religionslehrer an, bauten 1898 einen neuen jüdischen Friedhof an der heutigen Wiesenstraße. Die jüdische Bevölkerung nahm teil am gesellschaftlichen Leben in Rothenburg. Die jüdischen Familienbetriebe siedelten an zentralen Stellen in der Innenstadt in der Oberen Schmiedgasse, in der Klingengasse und in der Herrngasse oder wegen des Viehhandels in Bahnhofsnähe.

In der Blütezeit – etwa um 1910 – waren etwa 100 jüdische Menschen in Rothenburg. Danach nahm die Zahl wieder ab, zuerst aus wirtschaftlichen Gründen, dann durch den sich breit machenden Antsemitismus.

3. Hetze gegen die Juden und Verfolgung in der NS-Zeit

Sehr früh, bereits in den 20er-Jahren, kam es in Rothenburg zu antisemitischen Übergriffen gegen Juden: Am 4. August 1920 wurden die Häuser jüdischer (und anderer) Bürger mit Hakenkreuzen in Teerfarbe beschmiert. Dieser Übergriff wurde damals noch mit Entrüstung kommentiert. Doch bereits drei Jahre später, im Dezember 1923 hielt die Propagandistin des deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes Andrea Ellendt auf Einladung der antisemitischen Partei „Reichsflagge“ eine dreistündige Hetzrede im Vereinshaussaal. Die Rede ist nahezu im Wortlaut bekannt, weil der „Fränkische Anzeiger“ sie paraphrasierte, ohne sich aber vom Inhalt zu distanzieren. Gegen die Rede wandte sich am 4. Januar 1924 die jüdische Kultusgemeinde mit einem Leserbrief an die Zeitung. Im April des gleichen Jahres hielt der evangelische Stadtpfarrer Wilhelm Fabri für den evangelischen Arbeiterverein einen Vortrag über die „Stellung der evangelischen Christen zur Judenfrage“, bei dem kirchliche judenfeindliche Klischees zur Sprache kamen.

Ab 1933 schreckten die Nazis vor tätlicher Gewalt endgültig nicht mehr zurück. Die Gebrüder Theodor (geb. 1865) und Josef Mann (geb. 1869) besaßen seit Mai 1899 einen Viehhandel in der Adam-Hörber-Straße 23. Wenige Tage nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 verhafteten SA-Leute aus Rothenburg die beiden Geschäftsleute Theodor und Josef Mann und deren Söhne. Die Männer mussten vier Wochen lang im Gefängnis des Amtsgerichts ausharren. Die Ehefrau von Theodor Mann, Klara und ihre Tochter Dina Gretchen wurden in ihrem Haus drei Wochen lang von SA-Leuten belagert. Am 17. April 1933 nahm sich Klara Mann das Leben. Ihr Mann erlitt einen psychischen Zusammenbruch und wurde in die Nervenheilanstalt Ansbach eingeliefert. Schon im April 1933 konnten die Schulden des Geschäftes nicht mehr getilgt werden. Das Geschäft wurde fortan massiv boykottiert und diffamiert und erholte sich nicht wieder.
Die Vorfälle sind sehr gut in  den Polizeiprotokollen dokumentiert. Wolf Stegemann und  ich haben sie auf der Website „Rothenburg unterm Hakenkreuz“ dokumentiert. Einer der Anführer der SA-Leute, der damals gegen  die Manns massiv tätlich geworden war, hieß Lassauer. Als sein Sohn dies auf der Website las, wurde er in mehrern E-Mails ausfällig, behauptete, wir würden Rachegefühle gegen ihn hegen und würden den Namen seiner Familie beschmutzen.
Im Juni 1938 wurde überall Juden der Viehhandel verboten. Am 29. Oktober 1938 versammelten sich Antisemiten vor dem Haus der Familie Mann. Die von den Manns herbeigerufene Polizei nahm jedoch die jüdischen Männer in „Schutzhaft“. NSDAP-Funktionäre zwangen Josef Mann unter Androhung, ihn in das KZ Dachau zu schicken, sein Hab und Gut an den 1938 „arischen“ Viehverteiler Leonhard Assel weit unter Wert zu verkaufen. Anschließend mussten Josef und Theodor Mann Rothenburg verlassen und flohen nach München. Von München wurden sie am 24. Juni 1942 nach Theresienstadt und von dort im September 1942 nach Treblinka verschleppt, wo sich ihre Spur verliert. Die Zwillingssöhne von Josef Mann, Norbert und Justin, konnten in die USA fliehen. Im August 1933 warf man dem jüdischen Lederhändler Leopold Westheimer „Rassenschande“ vor und trieb ihn barfuß und mit einem Schild behängt durch die Stadt.
Vom 9. bis 14. März 1937 holten die NSDAP-Kreisleitung, das Kreisamt für Volksgesundheit und der Bürgermeister Dr. Friedrich Schmidt die Ausstellung „Blut und Rasse“ des deutschen Hygienemuseums aus Dresden nach Rothenburg. Ihre Aufgabe war, „den in der nationalsozialistischen Weltanschauung verankerten Gedanken von Blut und Boden, von der rassischen Gestaltung des deutschen Menschen zum Ausdruck zu bringen“. Die Ausstellung fand im Evangelischen Vereinshaus statt und zog während der kurzen Zeit 2.400 Ausstellungsbesucher an.

Am 12. Februar 1936 wurde am Rödertor eine steinerne „Mahntafel“ enthüllt, die der Gauleiter Julius Streicher gestiftet hatte. Sie trug als Inschrift den Ausschnitt einer Rede Streichers: „Die Weltgeschichte nennt die Namen der Völker, die am Juden zugrunde gingen. Ihr tragisches Ende ist eine furchtbare Mahnung für die Völker, die noch am Leben sind.“ Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der haltlosen Behauptung des Textes fand nicht statt. Eine solche Gedenkfeier wurde fortan alljährlich am Geburtstag Julius Streichers inszeniert. Die dabei auftretenden Redner benutzten die Gelegenheit, Hasstiraden gegen Juden vorzutragen: „Wir wollen deine Mitstreiter sein und nicht rasten und ruhen im Kampf gegen den Juden.“
Am 1. August 1937 machte sich die Rothenburger NSDAP-Ortsgruppe auf, vier antisemitische „Mahntafeln“ mit Hetzgedichten gegen Juden am Spitaltor, Klingentor, Galgentor und am Burgtor aufzuhängen. Gemalt hatte diese nach dem Vorbild des Stürmer-Karikaturisten Philipp Rupprecht der Rothenburger Maler Ernst Unbehauen. Einige der Texte hat Martha Faber gedichtet, eine bei den  Rothenburgern sehr beliebte Grundschullehrerin, die auch im Verein Alt-Rothenburg aktiv war. Die Tafeln hingen bis zum Einmarsch der Amerikaner, also mindestens siebeneinhalb Jahre lang. Der Antisemitismus hatte sich in Rothenburg durchgesetzt.

Anfang Mai 1938 veröffentlichte der Rothenburger Stadtarchivar Studienrat Dr. Martin Schütz ein pseudohistorisches antisemitisches Heimatbuch: „Eine Reichsstadt wehrt sich. Rothenburg ob der Tauber im Kampf gegen das Judentum.“ Das Buch wurde ein Bestseller in Rothenburg. Allein 1000 Exemplare wurden im ersten Monat abgesetzt. Sogar in den Schulen wurde es gelesen. Im Buch und in Begleitvorträgen stellte er dar, wie Rothenburg sich im Jahr 1519 die „Judenfrage“ löste.
Der Kaufmann Josef Wimpfheimer wurde im Herbst 1938 nachts aus dem Bett geholt. SA-Leute traten solange auf seine nackten Füße herum bis sie bluteten. Dann wurde er aus dem Haus gejagt. Draußen wurde Wimpfheimer von einem SA-Mann brutal zusammengeschlagen. Am 29. Sepetember1938 meldeten sich die letzten beiden jüdischen Viehändler Samson und Siegmund Wurzinger ab.
Der letzte Tag für die Juden in Rothenburg war der 22. Oktober 1938, ein Sabbat übrigens. Man dachte wohl, man würde ein leichtes Spiel haben, wenn die Juden in der Synagoge seien. An diesem Tag wurden alle Rothenburger Juden, die noch in der Stadt wohnten, vom Kreisleiter Steinacker aus der Stadt gewiesen. Der Kreisleiter befahl dem Polizeichef, Ferdinand Lieret, alle Juden festzunehmen. Doch dieser weigerte sich. SA-Leute in Zivil und Hitler-Jugendliche drangen in die Wohnungen der jüdischen Familien ein. Sie trieben die Juden in die Synagoge und forderten sie auf, umgehend die Stadt zu verlassen. Auch Mitglieder der oben erwähnten Familie Mann aus der Adam-Hörber-Straße 23 wurden aus den Häusern geholt und in die Synagoge getrieben. Justin Mann hatte sich bis zuletzt im Garten versteckt.
Schließlich wurde ihnen freier Abzug zum Bahnhof gewährt. SA-Leute schossen ihnen mit einer Festspielkanone, die Krach und Pulverdamp erzeugte, hinterher. Die Vertrieben durften noch einmal im Verlauf einer Woche zurückkommen, um ihre Angelegenheiten zu regeln. Die Einrichtungsgegenstände der Synagoge wurden zerstört. Zwei Tage später, am 24. Oktober meldete Kreisleiter Steinacker an den Gauleiter Julius Streichen, dass Rothenburg „judenfrei“ sei. Am darauf folgenden Donnerstag (27. Oktober 1938) gab es organisierte „Freudenfeiern“.

Der damalige evangelische Dekan Jelden schrieb nach 1945 in sein Tagebuch: „Nachdem schon länger durch Bilder und Worte an den Toren gegen die Juden gehetzt wurde, ging man gegen die jüdischen Familien und Häuser vor. Es gab Zerstörungen, es wurde Hausrat zerschlagen und die Juden wurden herausgetrieben. Das Vorgehen wurde durch einen großen Fackelzug als Feier zur Befreiung von den Juden verherrlicht.“ Viele flohen in die nächstgrößeren Städte. Über die Hälfte der damals Geflohenen verloren ihr Leben in einem Konzentrationslager. Die Häuser in Rothenburg wurden zu Schleuderpreisen „arisiert“.
Der jüdische Friedhof und das ihn umgebende Gelände wurde zerteilt und verkauft. 1942 schändeten so genannte „Bubenhände“ die jüdischen Grabsteine und warfen sie um. Privatleute erwarben das Taharahaus. Die Stadt Rothenburg eignete sich das Friedhofsgelände an. Ein im Stadtrat vertretener Steinmetz nahm die Steine an sich und bearbeitete sie vor Ort, indem er die jüdischen Namen abschliff. Wahrscheinlich stehen diese Grabsteine heute noch irgendwo auf christlichen Gräbern am Friedhof vor dem Rödertor.

4. Einladung von jüdischen Bürgern nach Rothenburg ob der Tauber

Ich wende mich nun der Zeit nach dem Kriege zu. Das Schicksal von jüdischen Bürgern war in Rothenburg lange unbekannt. Es breitete sich ein bleierner Mantel des Schweigens aus. Im Dezember 1946 wohnten in der Unteren Schmiedgasse, in der Zierleinstraße und in der Oberen Schmiedgasse kurzzeitig wieder „Glaubensjuden“, so eine Auskunft von Bürgermeister Hörner. Gemeint waren so genannte „displaced persons“, Menschen ohne Heimat, deren Namen bekannt sind, deren Spuren sich aber nach kurzer Zeit wieder verloren.
Von den in den Jahren 1933 bis 1938 vertrieben jüdischen Bürgern, die die Verfolgungszeit überlebt haben, ist keiner mehr in Rothenburg sesshaft geworden. Etwa die Hälfte von den etwa 18 jüdischen Bürgern, die zum Vertreibungstermin am 22. Oktober 1938 hier wohnten, hat es geschafft, zu fliehen und zu überleben, die andere Hälfte verlor in einem der Konzentrationslager der Nazis das Leben, in Auschwitz, Theresienstadt oder Litzmannstadt

In der Zeit nach 1945 bemühten sich manche Rothenburger Oberbürgermeister, frühere jüdische Bürger der Stadt einzuladen oder deren Nachkommen. Besonders um Versöhnung und Begegnung verdient gemacht hat sich vor allem der damalige Oberbürgermeister Oskar Schubart, der in Rothenburg in den Jahren 1976 bis 1988 amtierte.
Manchmal haben sich auch Freundschaften entwickelt wie zwischen der Familie Wack senior aus der Goldenen Ringgasse und Nachkommen der Familie Mann aus der Adam-Hörber-Straße. Auch Iwan und Bruno Westheimer haben Rothenburg wieder besucht: Iwan war einige Zeit lang im KZ Dachau und konnte 1940 nach Brüssel fliehen, wo er überlebte. Bruno Westheimer, 1905 geboren, hatte 1931 eine nichtjüdische Rothenburgerin geheiratet, Eva Margarethe Schweitzer. Ihnen gelang 1938 mit ihrer fünfjährigen Tochter Sigrid die Flucht von Rothenburg nach Hamburg. Und von dort in ein bekanntes New Yorker jüdisches Viertel, die Washington Heights. Die Tochter Sigrid ist erst vor wenigen Jahren gestorben. Die Nachkommen leben in den Vereinigten Staaten und haben noch Kontakte nach Rothenburg.
Im Juli 1992 hat die nach Israel ausgewanderte Carola Anfänger, geb. Oberndörfer, Rothenburg gemeinsam mit ihrem Sohn besucht. Von unschätzbarem Wert ist der Dokumentarfilm, den die Dokumentarfilmgruppe der Realschule Rothenburg um den Lehrer und Filmemacher Thilo Pohle mit ihr gedreht haben: Der Streifen „Mit einem Köfferchen, nicht mehr“, erzählt in einem Zeitzeugeninterview von Flucht und Vertreibung aus Rothenburg und Berlin. Der Film wurde 2012 zum ersten Mal unter dem Titel im Filmforum Rothenburg gezeigt.
Immer noch losen Kontakt zu Rothenburg hat die Familie Katz-Schachar aus Toronto in Kanada, Nachkommen der Familie Metzgerei Lehmann aus der Oberen Schmiedgasse. Die Kinder haben erst nach dem Tod ihrer Mutter die jüdischen Spuren ihrer Familie in Rothenburg aufzusuchen. Dabei kam es auch zu fruchtbaren Kontakten zur Stadt Rothenburg und zu Schülerinnen und Schülern des Reichsstadt-Gymnasiums.

5. Publizistische Aufarbeitung der jüdischen und NS-Geschichte

Wesentliche Schritte zur Aufarbeitung der jüdischen Geschichte geschahen durch journalistisches Engagement. Da ist zum einen Dieter Balb zu nennen mit seiner Artikelserie im „Fränkischen Anzeiger“ (1983 und 1985): „Rothenburg im Nationalsozialismus“ – ein kleiner Teil der Artikelserie befasste sich erstmals auch mit den Rothenburger Juden, die 1938 von hier vertrieben wurden. Dieter Balb veröffentlichte vor allem Ausschnitte aus dem Zeitungsarchiv des „Fränkischen Anzeigers“ und unternahm Befragungen in der Bevölkerung, – Zeitzeugengespräche, die heute nicht mehr möglich sind, weil seitdem die meisten Zeitzeugen verstorben sind.
Als Zweites ist das Engagement von Wolf Stegemann zu nennen. Er hatte vor einigen Jahren die Idee zu der Internetseite „Rothenburg unterm Hakenkreuz“, in der immer wieder Artikel über die Nazizeit veröffentlicht werden. Mittlerweile sind es über 450. Er steuerte einen ganz wesentlichen Teil zur Aufarbeitung der jüdischen Geschichte bei. Vieles was in Staats- und Stadtarchiven schlummerte, kam durch seine Recherche ans Tageslicht, so dass der Satz, man könne nichts mehr über die jüdische bzw. über die nationalsozialistische Geschichte wissen, weil 1945 die städtische Registratur abgebrannt sei, als widerlegt gelten kann. Ich stelle diesem Geschichtsmythos gegenüber die These auf, dass durch die Bombardierung Rothenburgs nicht nur ein Großteil dieser Stadt und etwa vierzig Menschenleben verbrannt worden waren, sondern auch der Wille zur Erinnerung an die jüdische Geschichte verbrannt war. Parallel zur Website „Rothenburg unterm Hakenkreuz“ entstand die Dissertation von Daniel Bauer über die Machtstrukturen im Nationalsozialismus in Rothenburg, die im kommenden Jahr veröffentlicht werden wird und aus der er uns auf dieser Tagung berichtet hat.

6. Eine Decke des Schweigens: Judenkirchhof und Schrannenplatz

Erste Versuche, die jüdische Geschichte Rothenburgs wieder zu entdecken, geschahen als Reaktion durch Impulse von außen. Man versuchte, im internationalen Tourismus anschlussfähig zu bleiben und ein möglichst strahlendes Bild der Stadt Rothenburg abzugeben. Man verschwieg oder bedeckte dabei die jüdische Geschichte, die ja immer von Verfolgung und Vernichtung begleitet war: Als Beispiel hierfür mag der Umgang mit dem so genannten Judenkirchhof gelten:
Das Wort „Judenkirchhof“ ist ebenso wie Judengasse, Judenbühl, Judenbuche und so weiter, eine christliche Bezeichnung für einen Ort, der von jüdischer Geschichte und jüdischem Glauben geprägt ist, in diesem Fall ist es der alte jüdische Friedhof des ersten und zweiten jüdischen Viertels (1266–1395), von dem man bereits 1914 Grabsteine wieder gefunden hat. Seltsamerweise nicht zur Nazizeit, sondern erst viel später, 1958, hat man in Rothenburg den „Judenkirchhof“ in „Schrannenplatz“ umbenannt. Die Namenswahl darf als wenig geglückt gelten, denn der Name Schranne (als Bezeichnung für eine Kornscheune) spricht nicht aus sich selbst, sondern muss bei jeder Stadtführung den Besucherinnen und Besuchern erst erklärt werden. Wie kam es zur Umbenennung?
Im September 1955 reiste der englische Universitätsprofessor Dr. Cyril Bibby (1914 bis 1987) nach Rothenburg. Bibby war Erziehungswissenschaftler am University College Plymouth St. Mark & St. John. Er erblickte mit seiner Reisegruppe in Rothenburg die erstaunlich vielen hebräischen Schriftzeichen der ehemaligen Grabsteine, die an vielen Stellen in Rothenburger Häuser eingelassen waren, u. a. in der Schrannenscheune. Als er danach fragte, erzählte ihm irgendjemand auf der Straße, in den letzten Kriegstagen seien hier massenweise Juden von der SS abgeschlachtet worden und deswegen nenne man den Platz heute Judenkirchhof. Natürlich war diese Antwort komplett falsch. Als Bibby wieder zu Hause war, setzte er sich an den Schreibtisch und schrieb einen Brief an den Oberbürgermeister und fragte nach der Bezeichnung „Judenkirchhof“. Er erzählte dabei auch, was ihm von dem angeblichen Massaker der SS berichtet worden war. Prof. Bibby war ein führender Mitarbeiter des Magazins Reader’s Digest. Die Stadtspitze Rothenburgs geriet in helle Aufregung und witterte die Gefahr, dass das Ansehen Rothenburgs weltweit in Verruf gerate. Deshalb beauftragte Bürgermeister Keitel den damaligen Stadtarchivar Heinrich Schmidt, an Prof. Bibby einen authentischen Bericht über die Judenverfolgungen in Rothenburg zu liefern. Dieser Bericht wurde in Auszügen im September 1955 in einer Serie von Artikeln auch im „Fränkischen Anzeiger“ wiedergegeben. Stadtarchivar Schmidt hebt am Ende seines Informationsbriefes an Bibby hervor: „Von einem Abschieben einzelner Israeliten von Rothenburg aus in Konzentrationslager ist nichts bekannt.“ Wieder wird damit ein Juden betreffender Geschichtsmythos zitiert oder erst geschaffen. Diese Formulierung vernebelt die Tatsachen wider besseres Wissen. Verschwiegen wird nämlich die in Rothenburg bekannte öffentliche Vertreibung der Juden aus Rothenburg am 22. Oktober 1938. Die Formulierung, von Rothenburg aus sei niemand deportiert worden oder ins KZ eingeliefert worden, kommt in verschiedenen Quellen so häufig vor, dass man geradezu von einer bewusst oder unbewusst konstruierten offiziellen Wirklichkeit im Umgang mit den jüdischen Bürgern und der Erinnerung an sie sprechen kann.
Fast drei Jahre nach dem Vorfall mit Prof. Bibby – im Juli 1958 – beantragte Stadtrat Wilhelm Reingruber (Freie Wählervereinigung) im Stadtrat, den „Judenkirchhof“ einfach in „Schrannenplatz“ umzubenennen. Reingruber begründete seinen Antrag damit, dass es in Rothenburg bereits einen Judenfriedhof gebe und dass es nicht angebracht sei, „diesem Platz, der doch nur als Parkplatz diene, weiter diesen Namen zu belassen“. Die Umbenennung wurde am 10. Juli 1958 im Stadtrat einstimmig entschieden. Der „Fränkische Anzeiger“ berichtete zwei Tage später, dass Fremde es als pietätlos empfänden, dass auf einem Judenkirchhof Volksfeste und Messen abgehalten würden. – Der suggestive Kommentar des „Fränkischen Anzeigers“ lautet: „Solcher Argumentation muß man beipflichten. Also: der Judenkirchhof ist tot, es lebe der Schrannenplatz.“ Auf diese Weise hat man in den Jahren nach 1945 die jüdische Stadtgeschichte Rothenburgs in einer dreisten Art und Weise verdrängt und „entsorgt“ – oder soll man sagen „beerdigt“?
Doch unter der schützenden Teerdecke des Schrannenpatzes rumort es seitdem: Immer wieder werden Rufe laut, diesen Platz zu bebauen oder der Forderung nachzugeben, hier eine Tiefgarage zu bauen. Das Vorgehen, die jüdische Geschichte Rothenburgs unter das Straßenpflaster zu kehren, hat in Rothenburg schon einige Tradition: Vielen fällt schon gar nicht mehr auf, dass sich unter der Pflasterdecke der größten Parkplätze innerhalb des Altstadtmauerrings die Überreste mittelalterlicher jüdischer Geschichte befinden.

Drei Beispiele hierfür

1) Am Kapellenplatz in der Nähe des Seelbrunnens würden bei Grabungen die Reste der ersten romanischen Synagoge Rothenburgs zutage treten, der Synagoge Rabbi Meirs. Diese Synagoge war, während das jüdische Viertel Judengasse/Schrannenplatz entstand,  in  eine Marienkapelle umgewandelt worden (1404) und später (1805) abgerissen worden. Wenn man am  Kapellenplatz graben würde, könnte man vielleicht sogar die Reste des Lehrhauses von Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg entdecken. Heute ist dort ein größerer Parkplatz.  Man könnte wenigstens durch die Farbgebung der Pflastersteine markieren, dass sich hier die Synagoge befand,  denn die Grundmauern müssten sich noch finden lassen. Einen archäologischen Survey in den dortigen Kellern könnte man am Kapellenplatz sicher auch erfolgreich betreiben.

2) Unter dem Schrannenplatz befindet sich ein Teil des zweiten jüdischen Stadtviertels (ab ca. 1371) sowie der alte jüdische Friedhof. Man würde hier ebenfalls die Fundamente einer 1520 zur Marienkapelle umgewandelten Marienkapelle entdecken.  Darüber hinaus weitere Grabsteine und eine weitere Mikwe.

3) In der Judengasse hat man auf der Stadt zugewandten Seite im Jahr 2002  (Link: http://www.alt-rothenburg.de/unser-engagement/aktionen–aufgaben/grabung-juden–deutschherrngasse/index.php) Ausgrabungen durchgeführt und Relikte aus jüdischer Zeit gefunden. Trotz des Bemühens einiger an der jüdischen Geschichte Interessierter, diesen Platz als archäologischen Garten zu erhalten, verschwand auch diese Stelle hinter einer Betonmauer und unter Straßenpflaster. Heute ist dort – ein Parkplatz.

Das Vermeiden, nicht unter die Straßendecke gehen zu wollen, erscheint mir persönlich signifikant für den Umgang mit jüdischer Geschichte zu sein: Man möchte nichts investieren oder nicht tiefer schürfen, sondern eine undurchdringliche Decke des Schweigens darüber breiten. Dagegen hat sich der Verein Alt-Rothenburg (VAR) gerade bei dem, was sich oberhalb des Straßenpflasters befindet, sehr verdient gemacht: Die erfolgreiche Sanierung der Judengassenhäuser geht wesentlich auf den VAR zurück und wird in vorbildlicher Weise fortgesetzt. Immerhin handelt es sich dabei um eine der besterhaltenen Judengassen von Europa.

7. Auseinandersetzung nur mit dem Mittelalter

Doch nicht immer ging man so vor. Im Jahr 1993 gedachte man auch auf Initiative der Museumsdirektorin Hilde Merz des 700-jährigen Todestags von Rabbi Meir ben Baruch von Rothenburg und richtete im Reichsstadtmuseum eine Judaica-Abteilung ein. Hier kamen die mittelalterlichen jüdischen Grabsteine zur Geltung. Man erzählt die Geschichte von Rabbi Meir und stellt für Schulklassenbesuche Judaica-Gegenstände aus, die man auf dem Kunstmarkt aufgekauft hatte.

8. Burggarten-Denkmal

Eine besondere Geschichte erzählt das Denkmal im Burggarten. Mit diesem Denkmal wurde Ende November 1998, also 700 Jahre später, im Beisein einer großen Menschenmenge an das Rintfleisch-Pogrom gedacht. Teil des Denkmals ist die Replik und die Übersetzung des Klagelieds auf dem Pogromstein, den ein überlebender Jude kurz nach dem Pogrom hat meißeln lassen. „Mit bitterer Seele eine bittere Klage…“ Jüdische Kinder und Erwachsene wurden von ihren christlichen Nachbarn erschlagen und verbrannt. Ein Überlebender verfasste das hebräische Klagelied.
Das Denkmal war auf Initiative von Oberbürgermeister Herbert Hachtel in Auftrag gegeben worden. Der Künstler Peter Nedwal hat es angefertigt. Man sieht darauf Juden im Feuer brennen und kann den Text lesen. Verantwortet und veranlasst hat das Denkmal der Rothenburger Verkehrsverein. Dieses ist wahrschinlich das erste Denkmal mit dem man an die Pogrome von 1298 erinnerte, faktisch aber die Vernichtung jüdischen Lebens von 1933 bis 1945 meinte. Die Erinnerung geschieht durch eine Substitution der Anlässe und durch einen strukturellen Vergleich zwischen den Vorgängen im Dritten Reich und im Rintfleisch-Pogrom.

Bedeutungsvoll ist die Geschichte des Pogromsteins von 1298 selbst: Er war zusammen mit Grabsteinen im Jahr 1914 am Judenkirchhof/Schrannenplatz zutage getreten. Dann wurde er fotografiert. Dann verschwand er unter nicht näher geklärten Umständen, bis ihn die frühere Direktorin des Reichsstadtmuseums Hilde Merz im Museum plötzlich wieder entdeckte, aber leider halb zerstört. Heute ist er Teil der Judaica-Abteilung.

9. Zunehmende Offenheit

Seitdem gab und gibt es verschiedene Initiativen öffentlichen Gedenkens: Im Jahr 2002 wure auf Initiative des Stadtrats Friedel eine liegende bronzene Erinnerungstafel im Rabbi Meir-Gärtchen errichtet und eingeweiht. Der Text lautet: „Zum Gedenken an unsere jüdischen Mitbürger, die in der Zeit von 1933 bis 1938 aus Rothenburg vertrieben wurden.“ Die Formulierung zeigt, was damals im Stadtrat konsensfähig gewesen war: Man erinnert an Fakten, aber ohne Namen zu nennen. Niemand erfährt auf dieser Tafel, wer vertrieben hat und wie die Menschen hießen, die vertrieben wurden und man erfährt auch nicht, warum sie vertrieben wurden.

Im Jahr 2008 enthüllte die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, eine Gedenktafel an dem früheren Betsaal in der Herrngasse 21.
Von mir wurden in den Jahren darauf verschiedene Informationstafeln zu jüdischen Stadtgeschichte initiiert und von einem Arbeitskreis Jüdisches Rothenburg formuliert.
Seit dem Jahr 2010 gibt es in Rothenburg die Woche jüdischer Kultur „Le Chajim“, die immer um den 22. Oktober, den Tag der Vertreibung stattfindet. Die Idee dazu hatte die frühere Kulturbeauftragte der Stadt Rothenburg Annika Keller. Durch die jüdische Kulturwoche kann man sich breit über jüdisches Leben und jüdische Kultur informieren, auch wenn die Stadt unter der „Steinsituation“ leidet, dass es nämlich keine lebende jüdische Gemeinde hier mehr gibt.
Im Oktober 2011 gab es eine Schuhe-Rosenaktion in Rothenburg, bei der wir die Akzeptanz von Stolpersteinen ausloteten. Viele Rothenburger interessierten sich nun auch für die Einrichtung von so genannten „Stolpersteinen“ des Künstlers Günter Demnig. Es war keine Mühe Paten und Patinnen für die Steine zu finden. Am 26. April 2013 hat dann der Künstler Günter Demnig unter reger Anteilnahme der Öffentlichkeit zehn „Stolpersteine“ vor den Wohnhäusern einzelner aus Rothenburg vertriebener und im KZ ermordeter Juden verlegt. Ihre Namen sind: Ida Wurzinger, Samson Wurzinger, Sigmund Lißberger, Bella Lißberger, Jonas Gottlob, Rosa Hamburger, Sigmund Hamburger, Helene Kirschbaum, Sigmund Fritz Kirschbaum, Siegfried Steinberger.
Die Verlegung der Steine vor den Häusern beruhte auf der Zustimmung des Hausbesitzers, was normalerweise nicht erforderlich ist. Nicht alle, das muss man auch sagen, haben zugestimmt. Parallel dazu arbeitet die Stadt daran, Heimat für viele Menschen zu sein und zu werden: Sie versteht sich als eine Stadt der Vielfalt und inzwischen gibt es einen Migrationsbeirat.
Und schließlich: Erst in diesem Jahr hat die Oskar-von-Miller-Realschule im Fach Informatik unter Begleitung der Lehrer Volker Barthelmeß und Hans-Gustaf Weltzer eine Handy-App zur Jüdischen Geschichte gestaltet. Man kann die App jetzt schon im Internet ansehen unter www.judengemeinde.de und demnächst auch mit QR-Codes an den entsprechenden Stellen in der Stadt die entsprechenden Informationen abrufen.

Thesen zum künftigen Umgang mit der jüdischen Geschichte in der Stadt

1. In der Nachkriegszeit hat man wohl aus Scham bis in die 1990er-Jahre die jüdische Geschichte der Stadt verdrängt oder verschwiegen. In Rothenburg kommt vielleicht ein besonders großes Verdrängungspotential mit dazu, weil die Stadt durch den internationalen Tourismus stark frequentiert wird und deshalb gerne nur ihre romantisierende Seite präsentiert.
2. Mittlerweile gehört es zum guten Ansehen einer Stadt, dass die Erinnerung an das Leben, aber auch an die Vertreibung der jüdischen Einwohner nicht schamhaft verschwiegen, sondern festgehalten und aufgearbeitet wird. Nur durch eine aktiv gepflegte Erinnerung wird man die Geschichte der Juden von Rothenburg lebendig erhalten können.
3. Notwendig ist, dass man sich informiert, wie historisches Gedenken in anderen Städten praktiziert wird. Die jeweiligen Besonderheiten könnte man im Internet präsentieren.
4. Die Stadt Rothenburg sollte den Aufenthalt von amerikanischen und israelischen jüdischen Gästen in Rothenburg fördern. Dazu könnte es Informationen über die jüdische Geschichte der Stadt auch auf Neuhebräisch geben.
5. Für die Bewahrung jüdischen Bauerbes muss eine Konzeption entworfen werden: Der Verein Alt-Rothenburg ist gerade dabei, sich um die Sanierung der Judengasse 10 und 12 zu kümmern: Das jüdische Reinheitsbad könnte durch ein museales Konzept in seiner Bedeutung und Funktion für die jüdische Religion präsentiert werden. Ebenso wichtig ist die Restaurierung und ein Nutzungskonzept für das Taharahäuschen des jüdischen Friedhofs an der Wiesenstraße.
6. Gedanken zur Frage nach der Schuld.
Meine Damen und Herren ich danke Ihnen für ihre Geduld!

Siehe auch:

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Das Foto stellte uns freundlicherweise Jochen Ehnes zur Verfügung.

 

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