Historikerstreit: Durch die Verharmlosung des NS-Regimes und deren Verbrechen sollte im Sinne konservativer Politiker 1986/87 ein neues deutschen Selbstbewusstsein entstehen

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Die Entgegnung Habermas’ auf Nolte in “Die Zeit” vom 11. Juli 1986

W. St. – Als „Historikerstreit“ ist in den Jahren 1986/87 eine öffentlich geführte Kontroverse zwischen Geschichtswissenschaftlern bekannt geworden, in deren Kern die Frage stand, welche Rolle die Singularität des Holocaust für ein Identität stiftenden Geschichtsbild der Bundesrepublik spielen soll. Man war auf der „Suche nach neuem Nationalbewusstsein“, wie der Historiker Friedemann Bedürftig schreibt. Konservative Politiker waren den Historikern entgegengekommen, die sich um die Relativierung, wenn nicht Verharmlosung des NS-Regimes und seiner Verbrechen bemühten. Auffallend war in jener Zeit, dass plötzlich bei Interviews mit Bundeskanzler Helmut Kohl und seinen Ministern, wenn sie hinter ihren Schreibtischen saßen, die Deutschlandfahne ins Bild rückte. Bis dahin war es bei Politikern in der Bundesrepublik verpönt bzw. noch selten, dass sie sich vor der Fahne hinterm Schreibtisch zeigten, wie es seit jeher in anderen Staaten mehr oder weniger üblich ist.

Nolte

E. Nolte provozierte des Historikerstreit (Foto 2005)

Holocaust sei eine Folge der „asiatischen Tat“

Angeführt wurde die rechtskonservative Historikerbewegung von dem Geschichtswissenschaftler Ernst Nolte (geb. 1923), der 1986 in einem Artikel in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ die These aufstellte, der „Rassenmord“ der Nationalsozialisten sei aus Furcht vor dem älteren „Klassenmord“ der Bolschewiken an den Land besitzenden Bauern in der Sowjetunion ins Werk gesetzt worden. Gleichzeitig behauptete Nolte, es habe zwischen 1917 und 1945 einen „europäischen Bürgerkrieg“ gegeben. Der Krieg Hitlers gegen die Sowjetunion, so Nolte, sei zum Schutz der deutschen Bevölkerung vor einem russischen Angriff eröffnet worden. Auch „sei der Nationalsozialismus eine Reaktion auf die bolschewistische Gefahr zu sehen“ und der Holocaust sei eine Folge der „asiatischen Tat“.

Jürgen Habermas kritisierte Nolte

Jürgen Habermas kritisierte Nolte

Damit – so seine Kritiker – verharmlose Ernst Nolte den Nationalsozialismus und wasche so die Deutschen von ihrer Schuld an dem Genozid an den europäischen Juden rein. Der Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) verwahrte sich dagegen und gegen andere Aussagen von vier bundesdeutschen Historikern in einem scharfen Artikel und geißelte den schändlichen Versuch, den Deutschen „die Schamröte auszutreiben“, nannte dies „Revisionismus“, der ein deutsches Nationalbewusstsein durch das Abschütteln einer „entmoralisierten Vergangenheit“ erneuern solle.

Ernst Noltes Nähe zum Revisionismus der NS-Geschichte

Der sich aus dieser Diskussion entwickelnde zum Teil sehr heftig geführte „Historikerstreit“ hatte eine Selbstvergewisserung der deutschen Geschichtswissenschaft zur Folge. Es beteiligten sich zahlreiche Historiker, auch Journalisten und andere Autoren sowie Leserbriefschreiber in  Zeitungen und Zeitschriften. Die Thesen Ernst Noltes haben allerdings keinen Eingang in das allgemeine Geschichtsverständnis in Deutschland gefunden. Trotz aller Kritik – auch aus dem konservativen Lager – hält Nolte unbeirrt an seinen Thesen fest und steht deshalb weiter in der Kritik. Es müsse Schluss sein mit der negativen, auf Deutschland zentrierten Sicht des Nationalsozialismus und den einseitigen Schuldzuweisungen gegen die Deutschen, sagt er. In Interviews fragte er, ob die meisten Opfer der Nazis nicht in den Gaskammern, sondern durch Seuchen und Massenerschießungen getötet wurden. Nur die „Reizwörter“ Gulag und Auschwitz hätte er besser damals vermieden, sagt er heute. Es gelte für ihn noch immer, dass Nationalsozialismus und Kommunismus die Kontrahenten eines „europäischen Bürgerkrieges“ waren, wie er es bereits in seinem 1987 unter diesem Titel erschienen Buch beschrieben habe.

Seit dem Historikerstreit wurde Ernst Nolte immer wieder Nähe zu Revisionisten der Nazi-Geschichte vorgeworfen. Eine Laudatio zur Verleihung des Konrad-Adenauer-Preises der rechtskonservativen Deutschland-Stiftung geriet im Juni 2000 zu einem Skandal. Historiker und Publizisten warfen Horst Möller, dem Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, eine Rehabilitierung Noltes und seiner Thesen vor.

Andreas Hillgruber (1925-1989)

Andreas Hillgruber (1925-1989)

Wie der Historikerstreit ausgetragen wurde

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) veröffentlichte 1986 zunächst Artikel von Michael Stürmer (25. April) und Ernst Nolte (6. Juni) sowie einen wenig beachteten Vortrag von Christian Meier (28. Juni), die sich auf die NS-Zeit und deren Bedeutung für das deutsche Geschichtsbild, aber nicht direkt aufeinander bezogen. Noltes Thesen wurden von dem Berliner Historiker Henning Köhler in einem Leserbrief in der FAZ vom 26. Juni 1986 scharf kritisiert. Die eigentliche Debatte eröffnete der Artikel von Habermas in der Zeit (11. Juli 1986) sowie eine Kritik von Micha Brumlik an Hillgrubers Buch „Zweierlei Untergang“ vom 28. Mai, die die taz am 12. Juli veröffentlichte. Auf Habermas reagierten zunächst drei der von ihm kritisierten Autoren in der FAZ: Hildebrandt mit einem längeren Artikel (31. Juli), Nolte (1. August) und Stürmer (16. August) mit knappen Leserbriefen. Habermas antwortete dort am 11. August auf Hildebrandt.

Ab Ende August nahmen immer mehr nicht von Habermas kritisierte Autoren in verschiedenen deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften Stellung: Joachim Fest (FAZ, 29. August), Karl Dietrich Bracher (FAZ, 6. September), Eberhard Jäckel (Die Zeit, 12. September), Helmut Fleischer („Nürnberger Zeitung“, 20. September), Jürgen Kocka (Frankfurter Rundschau, 23. September), Hagen Schulze (Die Zeit, 26. September), Hanno Helbling (Neue Züricher Zeitung, 26. September), Hans Mommsen (Merkur, September/Oktober-Ausgabe; „Blätter für deutsche und internationale Politik“, Oktoberausgabe), Martin Broszat („Die Zeit“, 3. Oktober).

Hans Mommsen (Foto 2009)

Hans Mommsen (Foto 2009)

Rudolf Augstein verschärfte den Streit mit einer Kritik vor allem an Hillgruber („Der Spiegel“, 6. Oktober). Darauf reagierten Christian Meier („Rheinischer Merkur“, 10. Oktober), Thomas Nipperdey („Die Zeit“, 17. Oktober) und Imanuel Geiss (Der Spiegel, 20. Oktober), bevor erneut die Hauptkontrahenten Nolte („Die Zeit“, 31. Oktober; FAZ, 6. Dezember), nun auch Hillgruber („Rheinischer Merkur“, 31. Oktober; „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“, Dezemberausgabe), Habermas („Die Zeit“, 7. November), Hildebrandt (Die Welt, 22. November) und Stürmer (FAZ, 26. November) das Wort ergriffen. Zudem beteiligten sich Heinrich August Winkler („Frankfurter Rundschau“, 14. November), nochmals Christian Meier („Die Zeit“, 20. November), Kurt Sontheimer („Rheinischer Merkur“, 21. November), Richard Löwenthal (FAZ, 29. November), Wolfgang J. Mommsen („Frankfurter Rundschau“, 1. Dezember), Horst Möller („Beiträge zur Konfliktforschung“, 4. Dezember), Walter Euchner („Frankfurter Hefte“, Dezemberausgabe), Robert Leicht („Die Zeit“, 26. Dezember) und Joachim Perels („Frankfurter Rundschau“, 27. Dezember). Bis zum Jahresende erreichte der Streit einen gewissen Abschluss.

Im Februar 1987 schrieb Imanuel Geiss ein Resümee für die „Evangelischen Kommentare“. Am 23. Februar schrieb Habermas eine abschließende „Anmerkung“ für die geplante Ausgabe der wichtigsten Texte und Stellungnahmen des Streits im Piper-Verlag. Vom 15. April bis 12. Mai reagierten Nolte, Fest, Stürmer und Hillgruber dort nochmals darauf.

Zur Vorgeschichte

Die Deutsche Studentenbewegung der 1960er-Jahre forderte energisch eine gründliche Aufarbeitung der bis dahin nicht bewältigten Vergangenheit der NS-Zeit und gab den Bewältigungsversuchen Impulse. Doch bis 1986 wurde von der Geschichtswissenschaft keine eigene Gesamtdarstellung des Holocaust hervorgebracht.

Klaus Hildebrand; Foto: K. Schoepal

Klaus Hildebrand; Foto: K. Schoepal

Dafür gab es ab etwa 1973 unter bundesdeutschen Historikern einem Grundsatzstreit über die geschichtswissenschaftliche Methodik. Ältere, bis dahin führende Fachhistoriker zur NS-Zeit wie Andreas Hillgruber und Klaus Hildebrand konzentrierten sich traditionell auf Führungspolitiker, ihre Ideen und Handlungsspielräume und verteidigten diese Methode. Jüngere Historiker wie Hans Mommsen, Wolfgang J. Mommsen und Hans Ulrich Wehler,  die Habermas später im Historikerstreit unterstützten, vertraten dagegen eine sozialwissenschaftliche, an Gesellschaftsstrukturen und Interessengegensätzen orientierte Herangehensweise. Von beiden Seiten anerkannt wurde jedoch die Aufgabe einer „Historisierung“ der NS-Zeit, die Martin Broszat der deutschen Historikerzunft in einem Aufsatz 1985 stellte. Er verstand darunter eine umfassende Erforschung der historischen und sozialen Bedingungen für den Nationalsozialismus und seine Einordnung in die deutsche Gesamtgeschichte, wobei er sich bereits von geschichtspolitisch motivierten Versuchen einer Relativierung der NS-Verbrechen abgrenzte.

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Michael Stürmer

Was meinte Bundeskanzler Helmut Kohl mit „geistig-moralischer Wende“?

Seit etwa 1979 sahen einige dem linksliberalen Spektrum zugeordnete Wissenschaftler einen konservativen Richtungswechsel im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs über die NS-Zeit. Jürgen Habermas beschrieb damals eine „Neue Rechte“, die eine „Rückeroberung von Definitionsgewalten“ geradezu strategisch plane. Hans und Wolfgang Mommsen sowie Hans-Ulrich Wehler sahen solche Tendenzen auch in der NS-Forschung. Die „geistig-moralische Wende“, die Bundeskanzler Helmut Kohl 1982 in seiner Regierungserklärung ankündigte, besonders sein Diktum von der „Gnade der späten Geburt“ 1984 in Israel und sein Besuch eines Soldatenfriedhofs in Bitburg, auf dem auch Waffen-SS-Mitglieder begraben sind, mit US-Präsident Ronald Reagan 1985 betrachteten viele als Zeichen und Verstärkung eines Trends, die historisch-politische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Sinne einer verbreiteten Schlussstrich-Mentalität stillzulegen. Sie lehnten daher Kohls Initiative für ein Deutsches Historisches Museum in Berlin (West) und die Besetzung der Gründungskommission (darunter Prof. Michael Stürmer) vielfach als Versuch ab, ein konservatives, nationalverträgliches Geschichtsbild politisch zu verordnen.

8. Mai 1945: Tag der Befreiung – nicht Tag der Niederlage 

Demgegenüber wurde der Holocaust in den Massenmedien seit dem Film „Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiß“ (1978; deutsch Januar 1979) und erneut mit dem Dokumentarfilm „Shoa“ (1986) verstärkt thematisiert. Am 50. Jahrestag der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ (30. Januar 1983) und am 40. Jahrestag der deutschen Gesamtkapitulation (8. Mai 1985) wurde der NS-Verbrechen öffentlich breit gedacht. Richard von Weizsäcker beschrieb den 8. Mai 1945 als erster deutscher Bundespräsident als „Tag der Befreiung“ vom Nationalsozialismus, nicht mehr nur als Niederlage der Wehrmacht, und bekannte sich zum Vorrang des Gedenkens an die NS-Opfer.

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Quellen/Literatur: Ernst Reinhard Piper (Hrsg.): „Historikerstreit“. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung. Piper Verlag, München/Zürich 1987. – Imanuel Geiss: „Der Hysterikerstreit. Ein unpolemischer Essay“, Bonn und Berlin 1992. – Ernst Nolte: „Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sogenannten Historikerstreit“, Ullstein, 1987. – Hans-Ulrich Wehler: „Entsorgung der deutschen Vergangenheit? Ein polemischer Essay zum Historikerstreit“, Beck, München 1988. – Landeszentrale für Politische Bildung Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): „Streitfall deutsche Geschichte. Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein in den 80er-Jahren“, Hobbing, 1988. – Dan Diner (Hrsg.): „Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit“, Frankfurt am Main 1987, Fischer TB, Frankfurt am Main 1987. – Wikipedia, Online-Enzyklopädie (sehr ausführliche Darstellung,2013, auf die sich unser Artikel im Wesentlichen bezieht).

 


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