Erinnerungen an Rothenburg II: Aus dem US-Gefangenenlager Heilbronn entlassen. Zuhause wartete die Familie mit Freude, aber auch die Entnazifizierung – Brief des Vaters an die Tochter

Wörthmann-BuchtitelVorbemerkung: 19. August 2014. – Die 1924 geborene Rothenburgerin Erika Probst, später verheiratete Wörthmann, lernte und arbeitete als evangelische Kindergärtnerin in verschiedenen Einrichtungen u. a. in Neuendettelsau, Nürnberg, Gunzenhausen, Ipsheim. Danach war sie Flakhelferin im Norden und erlebte die so genannte Stunde Null in ihrer Heimatstadt Rothenburg ob der Tauber. Als sie in den ersten Nachkriegsmonaten wieder in Nürnberg war, erhielt sie von ihrem Vater einen Brief aus Rothenburg, in dem er ihr schrieb, wie es ihm in der kurzen Kriegsgefangenschaft ergangen ist und er nun wieder bei der Familie in Rothenburg sei. Aus seinem Schreiben geht hervor, dass der Vater noch nicht in der veränderten Gegenwart angekommen zu sein scheint. Die Menschen in der Mitte des Jahres 1945 mussten nicht nur in den Trümmern ihrer Stadt leben, sondern auch im Trümmerfeld ihrer Seelen und mussten das erst begreifen – Erika Wörthmann, die Tochter, schrieb ihre Erinnerungen an die Zeit zwischen 1943 und 1952 auf und veröffentlichte sie in dem Buch „Erika lach nicht! Die alltägliche Geschichte einer Kindergärtnerin“.

Darin ist der folgende Brief ihres Vaters Karl Probst abgedruckt, der jene sorgenvollen Tage der Heimkehr aus der amerikanischen Kriegsgefangenschaft beschreibt. Ein Stück Zeitgeschichte jenseits von Ursachenergründung. Das eigene Leid stand im Vordergrund. Obgleich er voller Freude über das Wiedersehen mit seiner Frau und seinen Eltern spricht, empfindet er dann doch seine Situation des Neubeginns als „Drama“. Wir veröffentlichen den Brief unkommentiert und mit angepasster Rechtschreibung in Auszügen.   

Der Brief – Das eigene Leid und die Not im Blickfeld

Rothenburg, den 6. August 1945

Meine liebe, gute Eri!

Wie Du aus den Schriftzeichen siehst, bin ich wieder leibhaftig zu Hause bei der lieben Mama, Marianne und Herbert. Und zwar schon seit Mittwoch, 1. August, 1945, abends um halb sieben. Am 31. Juli 45 nachmittags drei Uhr wurde ich aus dem Gefangenenlager in Heilbronn am Neckar entlassen und am 1. August abends war ich schon daheim. Am 31. fuhr ich noch mit dem Zug nach Öhringen, übernach­tete dort im Roten Kreuz. Am anderen Morgen hatte ich nach halbstündigem War­ten mit einem Lastauto über Künzelsau nach Blaufelden zu fahren, wo ich bereits früh zehn Uhr war. Ich begann gleich mit dem Fußmarsch. „Rothenburg 20 Kilometer“ stand auf dem Wegweiser. Den Militärmantel an, Brotbeutel und Mappe umgehängt, Decke mit Stiefel auf dem Rücken.

Der Vater Karl Probst vor 1945 (li.) und danach

Der Vater Karl Probst vor 1945 (li.) und danach; Foto dem Buch entnommen

Trotz aller Unterernährung kam ich nach drei Kilometern in Lindlein an, ich war fast schon am Ende meiner Kräfte. In einem Hause bekam ich Butterbrot und Milch und erfuhr durch Zufall, dass eine Cousine aus Bärenweiler im Nachbarhause war. Trotzdem wir uns nicht mehr erkann­ten, war ich doch vom Bauern eingeladen zum Vespern. Geräuchertes, Butterbrot und Most, das schmeckte aber dann ordentlich. Ich musste noch Mittagessen, Bohnen und Geräuchertes essen, aß aber nur einen Teller, da ich nach vorhergegangener Hungerzeit meinem Magen nicht all­ zu viel zumuten durfte. Sie gaben mir noch ein schönes Stück Bauernbrot, Geräuchertes und sechs Eier mit. Ich war so froh, konnte ich dann doch was mit nach Hause bringen – trotz meiner sonstigen Belastung. So tippelte ich halt Kilometer um Kilometer, trotzdem ich fast vor Schwäche und zu kleinen Stiefeln und großer Hitze nicht mehr konn­te. Aber das Zauberwort „Zu Hause, zu den Lieben“ ließ mich auch dies überstehen und kam in einem ganz be­dauernswerten Zustande, abgemagert und abgehetzt, bei Probst Großmutter an.

Fünf Tage lang weder Brot noch Wasser erhalten

Jeder, der mich sah, erkannte mich fast nicht mehr und hatte größtes Bedauern mit mir. Ein Vierteljahr und 1 Tag beim Amerikaner haben mir so zugesetzt, dass ich nur noch Haut und Knochen, besonders im Gesicht, an den Armen und am Körper war, trotzdem ich in der Gefan­genschaft nicht einen Tag krank war. … Es dürfte lediglich Unterernährung sein. Wenn Du die Bilder von Dachau gesehen hast, die jetzt oft gezeigt werden und sie würden mich daneben legen, so wäre kein großer Unterschied.

Trümmerbeseitigung in der zerstörten Galgengasse

Trümmerbeseitigung in der zerstörten Galgengasse

Ich will Dir nur in Kürze einiges von der Gefangenschaft schreiben. Am 30. April wurden wir in Maisach bei Fürsten­feldbruck gefangen. Alles, aber auch alles, einschließlich Zeltbahnen und Decken, ja, sogar Kommis (Brot) und Büchsen wurden uns abgenommen. Fünf Tage erhielten wir keinen Bissen Essen und keinen Schluck Wasser, so dass wir fast am Ende unserer Kräfte waren. Viele liefen nachts aus lauter Schwäche in den Drahtverhau und wurden abgeschossen, einmal 69 in einer Nacht. Mit Stückchen Holz und den Fingern gruben wir uns in den Boden ein, damit wir bei der Schießerei nicht noch umkamen. Am 5. Tag abends erhielten wir dann zwei kleine, amerikanische Büchsen für einen Tag. Es wurde dann lang­sam besser. … Am Himmelfahrtstage wurden wir auf große Autos verladen und kamen nach Neu Ulm. Dort verbrachten wir wieder bei größter Hitze und geringster Verpflegung neun Tage. Am Sonntag vor Pfingsten kamen wir wieder auf Lastautos und wurden über Stuttgart nach Heilbronn am Neckar verbracht. Dort anfangs wieder das gleiche Lied, bis wir nach drei Wochen endlich das erste warme Essen, Kaffee und auch das erste Brot bekamen.

Ohne Zelte auf dem Boden gelegen

Von einem Lager in ein anderes, bis wir dann im Lager 4 eine lange Zeit, fast bis zum Schluss blieben, in der Haupt­sache Zivilisten, von 9 bis 72 Jahren. Ich Parteigenosse, die meisten ohne je Pg gewesen zu sein. …. (Das Lager) war bestimmt eines der schlechtesten und soll auch die meisten Unterernährten gehabt haben. Ein Vierteljahr ohne Zelt, lediglich eine gebettelte Decke und einen Man­tel, auf dem blanken Boden, bei jedem Wetter. Vielleicht kannst Du Dir nun von dem Leben, das ich … bei verhältnismäßig guter und hoffnungsvollster Stimmung durchlebte, ein kleines Bild machen. Wir frag­ten uns oft, wie sich das mit der angeblichen Frömmigkeit der Amerikaner vereinbaren lässt. Die Stimmung hat mich hoch gehalten, war ich mir doch keiner schlechten Tat bewusst…

Antiquitätengeschäft in der "arisierten" Synagoge

Antiquitätengeschäft in der “arisierten” Synagoge

Amerikaner fragten nach der Beteiligung an der Judenverfolgung

Am Donnerstag, 26. Juli, wurde ich das erste Mal vernom­men. Da ich angab, dass ich NSKK Verwaltungssturmfüh­rer (Nationalsozialistische Kraftfahrkorps) war und stellvertretender Führer des Sturms. Der Ami fragte mich auch, was mit der Synagoge in Rothenburg sei, ob ich beteiligt gewesen sei, wann die Juden von Rothenburg fortgekommen sind, und welche Juden ich kenne. 1. Die Synagoge wohlerhalten und ausgebaut zu einer Antiquitätenhandlung, 2. Hörte ich erst tags darauf davon und 3. wusste nicht, wann sie fort kamen. 4. Gebrüder Mann, Wimpfheimer, die habe ich gekannt. Das waren meine Antworten.

Karl Probst war ein „ewiger Optimist“

Ich kam dann in das Lager 5 und wartete mit vielen ande­ren auf die Entlassung. Es rührte sich nichts, bis am Dienstag wir nochmals zu dem gleichen Verhör mussten, da die Entlassungspapiere verloren waren. Er sagte, wir kennen uns doch schon, nach kurzer Besichtigung des ausgefüllten Fragebogens, sagte er, ich entlasse Sie in die Heimat. – Das erlösende Wort war gesprochen und innerhalb einer halben Stunde waren wir aus dem Lager geführt, außerhalb des Stacheldrahts, der ein Vierteljahr uns unserer Freiheit beraubte. In Böckingen … angekommen, Mama und Marianne, Probst Groß­mutter, Reichels Tante, alle und noch viele andere, wa­ren voller Freude, dass ich wieder da sei und zugleich voll Bedauerns, ob meines Aussehens. Ein Vierteljahr hinter Stacheldraht, unter diesen Bedingungen, ausgebombt und dann wird man schließlich noch von seinem Amt enthoben. Es ist bestimmt viel, zuviel der Strafen für die viele, große Arbeit und das geopferte Familienleben, doch ich glaube und hoffe, dass auch dies wieder anders wird. Erst gestern sagte zu mir einer, Du bist immer noch der ewige Optimist. Jawohl, das will ich sein, habe ich doch nichts Unrechtes getan und nur Arbeit und wieder Arbeit geleistet. Und eines Tages werden sie auch wieder die Kräfte brauchen, die etwas vom Fach, besonders bei uns von der Vermessung, verstehen.

Karteikarte Stadtverwaltung Rothenburg

Lebenszeichen der Familie Probst aus Rothenburg; Bild dem Buch entnommen

Schlussakkord des Dramas – wieder zuhause

Nur kurz noch den Schlussakkord des Dramas. Am Donnerstag meldete ich mich auf dem Einwohner­meldeamt. Einer auf der Anmeldestelle und dann noch einer prophezeiten mir, dass ich gleich wieder verhaftet werde. Mama horchte auf jeden Schritt im Haus und auf jedes Auto, aber Gott sei Dank, ich bin heute unberufen noch da, ich befürchte auch nichts. Vom Einwohnermeldeamt ging es zum Arbeitsamt. Dort wurde mir gesagt, ich müsse gleich zum Arbeitseinsatz, worauf ich auf meinen Zustand hinwies. Sie sagten, ich müsse ein ärztliches Zeugnis beibringen, was ich dann zusagte. … Am Freitag war ich bei Dr. Sauer. Er schrieb mich ein Vierteljahr lang arbeits- und dienstunfähig. … Er verschrieb mir auch Zulagen an Marken, die Mama heute schon abholte. Bevor ich zum Arzt ging, kam ein Polizist und bestellte mich für Samstag früh neun Uhr zur Militärregierung, wo ich ob meiner Tätigkeit in der Partei und (im) NSKK befragt wurde. Ich sagte ihm, dass ich vom Arzt … dienstunfähig geschrieben sei. Er frag­te mich auch nach dem Essen in Heilbronn. Es war gut, sagte ich, das stimmte, das andere konnte er sich selber denken. Herr Probst, Sie können gehen, das war seine Antwort; sehr freundlich war er, das nur nebenbei.

So Gott will, bekomme ich meine Kräfte wieder

Im Amt war ich auch, ich muss halt aussetzen, werde wahrscheinlich auch entlassen, doch wurde mir zuge­sagt, dass ich doch eines Tages am Amte in irgendeiner Art tätig sein werde. Nun habe ich Dir alles geschrieben, liebe Eri, mehr als ich wollte, da Du Dir allerhand Sorgen um mich machen wirst. Das brauchst Du absolut nicht! Einen Tag Rumoren im Körper und Durchfall habe ich bereits hinter mir. Ich hoffe, dass ich bei der Pflege bei Mama und in dem schönen, vorläufigen Heim, das ich angetroffen habe, aber in sechs Wochen wieder aufgeben sollen, mich langsam wieder erholen werde. So Gott will, bekomme ich meine Kräfte wieder, der Körperumfang müsste es gerade nicht sein. Liebe Eri, ich freue mich sehr, dass Du so gut unterge­kommen bist, zeige Dich auch des Vertrauens würdig und sei ein ordentliches Mädchen. Ich grüße und küsse Dich aufs Herzlichste. Bleib gesund und munter.

Auf ein gesundes Wiedersehen! Dein Vater

P.S. Vielleicht besuche ich Dich auch einmal, wenn ich wieder besser beieinander bin. Gell, mache Dir keine Sorgen. Ölasse den Brief nicht in unrechte Hände kommen.

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